Die 13. Stunde
Augenblick wurde das Gesicht des Mannes weich. »Dann sollten Sie Ihre Frau beschützen, statt mich zu behelligen«, sagte er.
»Kennen Sie Ethan Dance?«
»Sind Sie Polizist?«
»Dance wird Sie zusammenschlagen.« Nick rieb sich die Lippe. »Anschließend bindet er Ihnen eine Eisenplatte an die Füße und wirft Sie in den Stausee.«
»Wollen Sie mir Angst einjagen?«
»Sie sollten auf mich hören«, erwiderte Nick.
»Nachdem ich das hier gesehen habe«, Dreyfus wies auf ihre Umgebung, »werden Sie gewiss verzeihen, wenn ich Ihre Warnung ignoriere. Ich habe Wichtigeres zu tun.«
Nach einem zornigen Blick ging Dreyfus davon. Nick blieb einen Augenblick stehen, nicht sicher, wie er den Mann zum Reden bringen sollte. Dann folgte er Dreyfus, schloss rasch zu ihm auf und ging neben ihm her über den versengten Boden. Bei jedem Schritt vermied er es, auf Trümmer und Fetzen von Gepäckstücken zu treten. Dreyfus blieb vor jedem weißen Laken stehen, neigte den Kopf wie als Ehrerbietung und hob das Laken an einer Ecke an.
Die Laken waren in aller Eile vom Northern Westchester Hospital hergebracht worden und dienten nun einem ganz anderen Zweck als dem, für den sie eigentlich gedacht waren. Obwohl Nick wusste, dass sie Leichen bedeckten, war ihm nicht klar gewesen, was sich tatsächlich unter dem Meer aus weißen Tüchern befand, die diese Höllenlandschaft sprenkelten: verstümmelte, zerfetzte, bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper. Einige Laken bedeckten nur Rümpfe, andere abgetrennte Gliedmaßen. So etwas hatte Nick noch nie gesehen. Der Anblick drehte ihm den Magen um. Wie Dreyfus in jedes Gesicht blicken konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, würde er nie begreifen.
»Was tun Sie hier?«, fragte er.
»Ich war Heeressanitäter in Vietnam. Ehrlich gesagt, ich hatte nicht gedacht, so etwas noch einmal sehen zu müssen. Leider habe ich mich geirrt.«
»Und Sie glauben, wenn Sie hierherkommen und freiwillig helfen, reinigt das Ihre Seele?«
»Was reden Sie denn da? Verschwinden Sie. Lassen Sie mich in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei.«
Nick ließ sich nicht einschüchtern. »Worauf hoffen Sie? Auf Buße?«
Dreyfus wandte sich Nick zu. In seinen Augen standen Wut und Schmerz. »Ich hoffe, dass ich meinen Bruder finde.«
Nick erstarrte. Dass Dreyfus’ Bruder im Flugzeug gewesen war, traf ihn völlig unvorbereitet.
»Tut mir leid«, sagte er. »Das habe ich nicht gewusst.«
»Dann wissen Sie es jetzt. Lassen Sie mich nun endlich in Ruhe?«
»Eine Sache noch. Heute Morgen wurde in Washington House eingebrochen, dem Anwesen der Hennicots. Sie waren für den Schutz des Hauses verantwortlich. Es wurden Brillanten und antike Waffen gestohlen. Die Täter haben ihre Spuren verwischt, aber ich weiß, dass diese Leute es auf Sie abgesehen haben. Sie müssen von hier verschwinden. Ich helfe Ihnen, wenn Sie mir sagen, wer in den Einbruch verwickelt ist. Ich muss jeden Namen kennen, wenn ich meine Frau retten will.«
Dreyfus hob den Blick. In seinen Augen lag nun kein Zorn mehr, sondern Mitgefühl. »Tut mir leid wegen Ihrer Frau«, sagte er. »Aber sie lebt wenigstens noch. Von meinem Bruder kann ich das leider nicht behaupten. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …«
Dreyfus bückte sich und hob das nächste Laken an.
»Mr. Dreyfus?«, rief eine Stimme hinter ihnen.
Dreyfus hob den Kopf. »Na, toll. Wer sind Sie denn nun schon wieder?«
»Ich bin Detective Ethan Dance.«
Nick drehte sich um. Er sah Dance, hinter dem vier uniformierte Polizisten standen.
»Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten.« Dance packte Dreyfus’ rechten Arm, einer der Uniformierten den linken. Nick musterte die Beamten. War einer von ihnen der Mann, den er tot am Grund des Stausees gesehen hatte? Nein, keiner hatte rotes Haar, und alle waren kräftig gebaut.
Nick dachte kurz an seine Pistole, doch wenn er sie zog, wäre er entweder tot oder in Handschellen.
»Lassen Sie ihn los!«, stieß er hervor.
»Wer sind Sie?«, fragte Dance.
»Kennen Sie denn kein Mitgefühl?«, stieß Nick aufgebracht hervor. »Der Mann sucht nach seinem Bruder.«
»Das ist nicht alles, wonach er sucht«, entgegnete Dance und drehte sich um.
Er und die anderen führten Dreyfus ab.
Nick starrte auf die weiß verhüllten Leichen und verzweifelte beinahe an der Frage, weshalb diese Unschuldigen sterben mussten. Welchem Zweck sollte das dienen? Wie viele Angehörige blieben in schrecklicher Trauer zurück?
Nick wusste, wie es war, wenn man den
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