Die 13. Stunde
können.«
Von Norden her näherte sich der Zug.
Julia nahm Nicks Hände und blickte ihm in die Augen. »Pass auf dich auf.« Sie drückte ihm die Hände, wie ihre Mutter es bei ihr getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
»Mach ich. Ich sehe dich heute Abend, spätestens um zehn. Aber ich glaube nicht, dass wir die Verabredung mit den Mullers einhalten können.«
»Das hattest du von Anfang an geplant, stimmt’s?«, fragte Julia lächelnd. »Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Komm also nicht zu spät, wenn du mich abholst.«
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein.
»Ich bin pünktlich«, versprach Nick, als er sie auf den Bahnsteig brachte.
»Wahrscheinlich brauchst du das hier.« Julia zog den PDA aus ihrer Handtasche und gab ihn Nick.
»Danke«, sagte er und steckte ihn ein.
»Vergiss nicht, was du versprochen hast!«, rief sie Marcus zu. »Keine Dummheiten!«
Mit kreischenden Bremsen hielt der Zug. Pressluft zischte, und eine Tür öffnete sich direkt vor ihnen.
»Zehn Uhr«, sagte Julia. »Nicht vergessen.«
»Zehn Uhr«, sagte Nick. »Nicht später.«
Julia verschwand im Zug, und die Türen schlossen sich zischend. Nick konnte von ihren Lippen ablesen, was sie sagte, als sie auf der anderen Seite des Türfensters stand: »Ich liebe dich.« Horace Randall hatte nur noch sechs Monate bis zur Pensionierung. In der Hoffnung, genug zurückzulegen, um in den Ruhestand gehen zu können, hatte er fünf Jahre länger gearbeitet als nötig. Doch wie das Leben so spielt, hatte er seinen Pensionsfond bereits ausgegeben und würde im Dezember ohne einen Cent auf der Bank in den Ruhestand gehen.
Im Alter von achtundzwanzig war er in die Polizeitruppe eingetreten, voller Erwartungen und mit einem selbstlosen Gerechtigkeitsempfinden. Doch im Lauf der Jahre musste er erkennen, dass es keine deutliche Trennlinie zwischen richtig und falsch gab; stattdessen war alles von den Grauzonen der politischen Zweckdienlichkeit geprägt. Er war eine ernüchternde Feststellung. Die letzten zehn Jahre hatte Randall nur noch Dienst nach Vorschrift gemacht, Papierkram erledigt und Bier getrunken.
Nie hatte er im Dienst die Waffe abgefeuert, nie hatte er einen Verdächtigen verfolgt, nie das romantisierte Leben eines Cops auf den Straßen geführt. Und das war ihm sehr recht.
Er hatte Ethan Dance angelernt, als dieser vor zehn Jahren in die Polizeitruppe eingetreten war; er hatte ihn unter seine Fittiche genommen, hatte ihn eingewiesen und stolz beobachtet, wie er rasch zum Detective aufstieg. Randall wusste sehr genau, was Dance nebenher tat, doch solange es ihn selbst nicht betraf, kümmerte er sich nicht darum. Und auch wenn Randall vielleicht kein Vorzeigebeamter war, so war er durch und durch Polizist und hätte niemals einen Kollegen angeschwärzt.
Randall wog annähernd hundertvierzig Kilo, da er in den letzten acht Jahren gut fünf Kilo jedes Jahr zugenommen hatte, und der vorgeschriebene Taillenumfang von maximal achtzig Zentimeter war nur noch eine ferne Erinnerung. Seine Hornbrille fanden einige junge Streifenbeamte »retro-cool«; Randall trug das Modell, seit er fünfzehn Jahre alt gewesen war.
Dance kannte Randalls Lage und hatte ihm eine Lösung seines Pensionsproblems angeboten: ein gesundes Bankkonto, von dem er den Rest seines Lebens zehren konnte.
Und so war es Horace Randall zugefallen, Julia Quinn aufzuspüren. Ursprünglich hatten sie geplant, Julia an diesem Abend zu Hause zu erwischen, doch nun hatte Dance – aus welchem Grund auch immer – den Zugriff vorverlegt. Dabei wäre alles viel leichter gewesen, wenn sie bei der ursprünglichen Planung geblieben wären.
Randall war zwar als Faulpelz verschrien, doch die meisten Menschen begriffen nicht, dass Faulheit Einfallsreichtum hervorbrachte. Wenn Notwendigkeit die Mutter der Erfindung war, dann hieß ihr Vater Faulheit. Randall hatte nicht die Absicht, durch die Gegend zu fahren und nach Julia Quinn zu suchen, wenn ein bisschen Herumklackern auf der Tastatur ihn viel weiter bringen konnte.
Das Leben in Byram Hills war zwar zum Stillstand gekommen, aber trotzdem mussten die Leute einkaufen, essen und tanken. Trotz der Tragödie ging das Leben weiter. Randall schickte Julias Foto als das einer Vermissten beim Flugzeugabsturz hinaus, mailte und faxte es an die Dienststellen der Grenzpolizei, an die Bahnhöfe, Restaurants und Tankstellen in den Nachbarorten.
Sie war eine schöne Frau, das sah man sogar auf dem digital gespeicherten
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