Die 2 Chance
Exposéüber das Leben im Gefängnis in Pelican Bay, von Antoine James. Posthume Veröffentlichung der Leiden, Grausamkeiten und Verbrecherkarrieren im Gefängnis.
Pelican Bay… Pelican Bay, dorthin brachten sie die schlimmsten Unruhestifter in den kalifornischen Gefängnissen. Gewalttäter, die nirgendwo anders gezähmt werden konnten.
Sie erinnerte sich, dass sie vor ungefähr zwei Jahren im
Chronicle
einen Artikel über Pelican Bay gelesen hatte. Damals hatte sie von Chimäre gehört.
Das
hatte ihr keine Ruhe gelassen.
Sie schob die Brille hoch und tippte die Anfrage beim Archiv des
Chronicle
ein:
Antoine James
.
Fünf Sekunden später kam die Antwort. Ein Artikel, 10. August 1998. Vor zwei Jahren. Geschrieben von Deb Meyer, die oft für die Sonntagsbeilage arbeitete. Überschrift: »POSTHUMES TAGEBUCH SCHILDERT IM DETAIL DIE ALBTRAUM-WELTEN DER GEWALT HINTER GITTERN.«
Noch zweimal klicken, und nach wenigen Sekunden war der Artikel auf dem Monitor. Es war ein Lifestyle-Beitrag in der Sonntagsbeilage. Antoine James hatte wegen bewaffneten Raubüberfalls eine Zehn-bis-fünfzehn-Jahre-Strafe in Pelican Bay abgesessen und war dort bei einer Gefängnisprügelei erstochen worden. Er hatte ein Tagebuch geführt und das albtraumhafte Leben im Knast festgehalten. Die ständigen Diebstähle, rassistische Übergriffe, Schläge vom Wachpersonal und die immer währende Gewalt durch Gangs.
Sie druckte den Artikel aus, schaltete den Computer ab und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Beine auf einen Bücherstapel. Dann las sie den Artikel.
»Von dem Moment an, in dem sie dich durch das Tor schaffen, ist das Leben in Pelican Bay ein ständiger Krieg gegen die Einschüchterung durch das Wachpersonal und die Gewalt der Gangs.« James hatte alles in ein schwarzes Wachstuchheft geschrieben. »Die Gangs geben dir Status, deine Identität und auch Schutz. Alle müssen sich durch einen Eid binden, und diejenige Gruppe, zu der du gehörst, bestimmt, wer du bist und was man von dir erwartet.«
Cindy las hastig weiter. Das Gefängnis war ein Schlangennest von Gangs und Vergeltung. Die Schwarzen hatten die Bloods und die Daggers, ebenso die Muslime. Die Latinos hatten ihre Nortenos mit roten Stirnbändern und die Serranos mit blauen. Außerdem gab es noch die mexikanische Mafia, Los Eme. Bei den Weißen gab es die Guineas und die Biker, und ganz üblen Abschaum, der sich Stinky Toilet People nannte. Und dann die Arier, die Übermenschen.
»Einige weiße Gruppen waren ultrageheim«, schrieb James. »Sobald man zu diesen Gruppen gehörte, wagte niemand mehr, dich anzurühren.
Eine dieser weißen Gruppen war besonders schlimm. Alle mit maximaler Strafe wegen Gewaltverbrechen. Sie würden einen Bruder locker aufschneiden, nur um zu wetten, was er gegessen hat.«
Adrenalin schoss durch Cindy, als sie den nächsten Satz las.
James hatte den Namen dieser Gruppe genannt:
Chimäre
.
Ich machte gerade Schluss für heute – nichts Neues über die vier Opfer. Die weiße Kreide war immer noch mysteriös. Da erhielt ich Cindys Anruf.
»Steht das Präsidium noch unter Kriegsrecht?«, fragte sie spitz und bezog sich auf die Erklärung des Bürgermeisters an die Presse.
»Glaube mir, hier drinnen ist es kein Picknick.«
»Warum treffen wir uns nicht? Ich habe etwas für dich.«
»Klar. Wo?«
»Schau aus dem Fenster. Ich bin direkt unter dir.«
Ich blickte hinaus und sah Cindy an einem geparkten Auto lehnen. Es war beinahe sieben Uhr. Ich räumte den Schreibtisch auf, rief Lorraine und Chip einen hastigen Gutenachtgruß zu und verdrückte mich durch den Hinterausgang. Ich lief über die Straße zu Cindy. Sie trug einen kurzen Rock und eine bestickte Jeansjacke. Über der Schulter hing ein verblasster khakifarbener Beutel.
»Chorprobe?« Ich zwinkerte ihr zu.
»Du musst ja reden. Nächstes Mal, wenn ich dich in der MEK-Ausrüstung sehe, gehe ich davon aus, dass du eine Verabredung mit deinem Dad hast.«
»Da wir gerade von Marty sprechen. Ich habe ihn angerufen und für morgen Abend eingeladen. So, was ist so wichtig, dass wir uns hier treffen müssen?«
»Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten.« Cindy nahm den Beutel und holte einen großen Umschlag heraus.
Sie reichte mir den Umschlag, und ich öffnete ihn. Ein
Chronicle
-Artikel von vor zwei Jahren über ein Gefängnistagebuch:
Höllenloch
von einem gewissen Antoine James. Einige Passagen waren mit gelbem Marker hervorgehoben. Ich
Weitere Kostenlose Bücher