Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
vergessen.
Als ich ihr gegenüber Platz nahm, musterte ich sie. Wir waren ungefähr im gleichen Alter, doch zu ihr waren die Jahre weit gnädiger gewesen. Während das Leben bei mir Narben hinterlassen hatte, hatte die Zeit Kettricken gepflegt und gehegt und nur ein paar feine Falten um ihren Mund und in den Augenwinkeln hinterlassen. Heute trug sie ein grünes Kleid, welches das Gold ihrer Haare und den Jadeschimmer in ihren Augen betonte. Ihre Kleidung war ebenso schlicht wie ihre Frisur, und sie trug weder Schmuck noch Schminke.
Sie frönte keinerlei Zeremonie, als sie mir Tee einschenkte und die Tasse vor mich stellte. »Nimm dir auch ein paar Kuchen, wenn du willst«, sagte sie. Irgendetwas in ihrer Stimme, ein heiserer Unterton, ließ mich die Tasse wieder beiseite stellen, die ich mir gerade genommen hatte. Sie mied meinen Blick. Ich sah ihre Augenlider flattern; dann löste sich eine Träne aus ihrem Auge und rann ihr über die Wange.
»Kettricken?«, fragte ich besorgt. Was war schief gelaufen, wovon ich nichts wusste? Hatte sie herausgefunden, dass die Narcheska ihren Sohn eigentlich gar nicht heiraten wollte? Hatte es wieder eine Bedrohung seitens der Alten Macht gegeben?
Rasselnd schöpfte Kettricken nach Atem und blickte mir plötzlich ins Gesicht. »Oh, Fitz, ich habe dich nicht deswegen hierher gerufen. Ich wollte es für mich selbst behalten. Aber … Es tut mir so leid. Für uns alle. Als ich es hörte, hatte ich es bereits geahnt. Ich war im Morgengrauen aufgewacht und hatte gefühlt, dass etwas zerbrochen war, etwas Wichtiges.« Sie versuchte, sich zu räuspern, konnte es aber nicht. So krächzte sie, während ihr nun die Tränen ungehindert über die Wangen rannen. »Ich konnte meinen Finger nicht auf den Verlust legen, doch als Chade mir deine Neuigkeiten gebracht hat, habe ich es sofort gewusst. Ich habe gefühlt, wie Nachtauge uns verlassen hat, Fitz.« Sie begann zu zittern, schlug die Hände vors Gesicht und weinte wie ein todunglückliches Rind.
Ich wollte fliehen. Fast hatte ich es geschafft, meine Trauer zu bezwingen, und nun riss Kettricken die Wunde wieder auf. Eine Zeit lang saß ich hölzern da, von Schmerz betäubt. Warum konnte sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen?
Kettricken schien meine Kälte nicht zu bemerken. »Die Jahre vergehen, aber einen Freund wie ihn vergisst man niemals.« Sie sprach mit sich selbst, den Kopf noch immer in die Hände gelegt. Ihre Stimme klang gedämpft und tränenerstickt. Sie schaukelte auf ihrem Stuhl. »Ich habe mich einem Tier noch nie so nahe gefühlt, bevor wir gemeinsam gereist sind. Aber in den langen Stunden der Reise war er immer da; er lief uns voraus, kam zurück und schaute nach uns. Er war wie ein Schild für mich, denn wenn er zurückgetrottet kam, wusste ich immer, dass keine Gefahren auf uns lauerten. Ohne seine beruhigende Art hätte mich mein armseliger Mut schon hundert Mal verlassen. Als wir zu unserer Reise aufbrachen, schien er nur ein Teil von dir zu sein; doch dann lernte ich seine eigene Persönlichkeit kennen. Seine Tapferkeit und seine Beharrlichkeit, ja selbst seinen Humor. Es gab Zeiten, besonders am Steinbruch, wenn wir auf die Jagd gegangen sind und nur er meine Gefühle zu verstehen schien. Es war nicht nur, dass ich mich an ihn klammern und in sein Fell weinen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass er meine Schwäche verriet. Es war, als schien er sich auch über meine Stärke zu freuen. Wenn ich die Beute erlegt hatte, konnte ich seine Anerkennung fühlen wie … wie eine Wildheit, die sagte, ich verdiene es zu überleben, dass ich mir meinen Platz in der Welt verdient hätte.« Sie atmete rasselnd. »Ich glaube, ich werde ihn für immer vermissen. Und ich habe ihn noch nicht einmal mehr gesehen, bevor …«
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte wirklich nicht geahnt, wie nahe sich die beiden gewesen waren. Nachtauge hatte seine Geheimnisse gut bewahrt. Die Gabe war auch in Königin Kettricken präsent. Wenn sie meditierte, hatte ich manchmal schwach ihre Fragen gefühlt. Oft hatte ich vermutet, dass ihre heimatliche Verbundenheit zur Natur in den Sechs Provinzen mit einem weniger achtbaren Namen belegt werden würde. Aber sie und mein Wolf?
»Er hat mit dir gesprochen? Du hast Nachtauge in deinem Geist gehört?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne das Gesicht aus den Händen zu nehmen. Ihre Finger dämpften ihre Antwort: »Nein. Aber ich habe ihn in meinem Herzen gefühlt, als ich allem
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