Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
anderen gegenüber taub war.«
Langsam stand ich auf. Ich ging um den kleinen Tisch herum. Eigentlich hatte ich ihr nur auf die Schulter klopfen wollen, doch kaum hatte ich sie berührt, da sprang Kettricken auf und warf sich mir in die Arme. Ich hielt sie fest und ließ sie an meiner Schulter weinen. Ob ich nun wollte oder nicht, auch mir stiegen die Tränen in die Augen. Dann erlaubte mir ihre Trauer – nicht ihr Mitgefühl für mich, sondern ihre echte Trauer um Nachtauges Tod – auch meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. All die Qual, die ich vor jenen zu verbergen versucht hatte, die meinen Verlust nicht wirklich verstanden, verlangte danach, sich augenblicklich Bahn zu brechen. Ich glaube, ich habe erst bemerkt, dass wir die Rollen getauscht hatten, als Kettricken mich sanft auf den Stuhl drückte. Sie bot mir ihr winziges Taschentuch an und küsste mich dann sanft auf die Stirn und beide Wangen. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Kettricken stand neben mir; ich hatte den Kopf gegen ihre Brust gelehnt, und sie streichelte mir übers Haar und ließ mich weinen. Mit gebrochener Stimme sprach sie von meinem Wolf und dem, was er für sie gewesen war, Worte, die ich kaum hörte.
Sie versuchte nicht, meine Tränen aufzuhalten, und sagte mir auch nicht, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Dem war nicht so und das wusste sie. Als mein Weinen schließlich aufhörte, beugte sie sich vor und küsste mich auf den Mund: ein heilender Kuss. Ihre Lippen waren salzig von ihren eigenen Tränen. Dann richtete sie sich wieder auf.
Plötzlich seufzte Kettricken, als lege sie eine Last beiseite. »Dein armes Haar«, murmelte sie und strich mir über den Kopf. »Oh, mein lieber Fitz. Wie hart wir dich benutzt haben! Euch beide. Und ich kann niemals …« Sie schien die Nutzlosigkeit von Worten zu fühlen. »Aber … nun … trink deinen Tee, solange er noch heiß ist.« Sie löste sich von mir, und nach einem Augenblick glaubte ich, mich wieder unter Kontrolle zu haben. Ich hob die Tasse und trank einen Schluck. Der Tee war noch immer glühend heiß. Nur kurze Zeit war vergangen, doch ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen entscheidenden Wendepunkt überschritten. Ich atmete tief ein, und die Luft schien meine Lungen zu füllen, wie schon seit Tagen nicht mehr. Kettricken nahm meine Tasse. Als ich zur Königin blickte, lächelte sie mir sanft zu. Vom Weinen waren ihre Augen rot und ihre Nase rosa. In meinen Augen hatte sie noch nie liebreizender ausgesehen.
So verbrachten wir einige Zeit gemeinsam. Auf dem Tisch standen Blätterteigpasteten mit Wurst und kleine Kuchen mit Obstfüllung sowie einfache, herzhafte Haferkuchen. Obwohl wir uns beide für unsere gebrochenen Stimmen schämten und es vorzogen, lieber nicht miteinander zu reden, kam keine unangenehme Stille zwischen uns auf. Schweigend aßen wir. Ich stand auf, um heißes Wasser für die Teekanne zu holen, und nachdem die Kräuter durchgezogen waren, schenkte ich uns beiden nach. Nach einiger Zeit des Schweigens lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und sagte leise: »Nun. Wie du also siehst, stammt dieser angebliche ›Makel‹ bei meinem Sohn von mir.«
Kettricken redete, als würden wir ein Gespräch fortsetzen. Ich hatte mich schon gefragt, wann sie diese Verbindung herstellen würde. Da sie das nun getan hatte, kümmerten mich die Schuldgefühle und die Reue, die ich in ihrer Stimme hörte. »Es hat auch schon vor Pflichtgetreu Weitseher mit der Alten Macht gegeben«, erklärte ich. »Mich eingeschlossen.«
»Und du hattest eine Mutter aus dem Bergvolk. Bist du Veritas nicht in Mondauge übergeben worden? Wer außer einer Bergmutter hätte dir dort das Leben geschenkt? Ich sehe sie in deinem feinen Haar, und ich habe sie in deiner Stimme gehört, als du die Sprache deiner frühesten Kindheit in Jhaampe neu erlernt hast. Wenn die Berge dich auf diese Art geprägt haben, warum dann nicht auch auf eine andere? Es ist gut möglich, dass sie die Quelle deiner Veranlagung war. Vielleicht ist sie Teil des Bluts des Bergvolks.«
Ich kam der Wahrheit gefährlich nahe, als ich sagte: »Ich betrachte es als ebenso möglich, dass Pflichtgetreu die Alte Macht von seinem Vater und nicht von seiner Mutter bekommen hat.«
»Aber …«
»Aber es ist nicht wichtig, woher sie denn nun kommt«, unterbrach ich meine Königin unerbittlich. Ich wollte das Gespräch auf ein anderes Thema lenken. »Der Junge hat sie, und damit müssen wir nun zurechtkommen. Als er
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