Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
konnte ich sogar noch weiter sehen: zu den steilen Klippen und dichten Wäldern, die diese Seite der Burg umgaben. Die Luft roch nach Sturm, und der Wind zeigte seine Winterzähne. Die Sonne stand bereits eine Hand breit über dem Horizont, die Morgendämmerung war vorüber. Der Prinz war nicht gekommen.
Das überraschte mich nicht. Pflichtgetreu schlief vermutlich noch tief und fest nach den Festivitäten der letzten Nacht. Nein, es war ganz und gar nicht überraschend, dass er mich vergessen hatte. Trotzdem war ich ein wenig enttäuscht, und das nicht nur, weil mein Prinz den Schlaf für wichtiger hielt, als sich mit mir zu treffen. Er hatte g esagt, dass er sich hier mit mir treffen würde und sein Versprechen nicht eingehalten. Er hatte mir noch nicht einmal eine Nachricht zukommen lassen und mir so die Zeit und Mühe erspart, hier raufzukommen. Für einen gewöhnlichen Jungen in seinem Alter war das natürlich ein unbedeutendes Problem, schlichte Gedankenlosigkeit. Aber das galt nicht für einen Prinzen. Ich wollte ihn dafür tadeln, wie Chade oder Burrich mich getadelt hätten. Ich grinste reumütig. Wenn ich es recht betrachtete, war ich in Pflichtgetreus Alter wirklich anders gewesen? Burrich hatte nie darauf vertraut, dass ich Verabredungen im Morgengrauen einhielt. Ich konnte mich gut daran erinnern, wie er an meine Tür zu hämmern pflegte, um sicherzustellen, dass ich keine Lektion im Umgang mit der Axt versäumte. Nun, wären unsere Rollen anders gewesen, ich wäre jetzt vielleicht hinuntergegangen und hätte an die Tür des Prinzen gehämmert.
So wie es war, gab ich mich jedoch damit zufrieden, eine Nachricht in den Staub auf dem kleinen Tisch neben dem Stuhl zu schreiben. »Ich war hier, du nicht.« Kurz und knapp, ein Tadel, wenn er das so betrachten wollte. Und anonym. Es hätte genauso gut die Nachricht eines lüsternen Pagen an eine offenherzige Zofe sein können.
Ich schloss die Fensterläden und ging auf demselben Weg wieder hinaus, den ich gekommen war, nämlich durch ein Panel an der Seite des Kamins. Es war eine enge Öffnung, und es bedurfte einiger Tricks sie wieder ordentlich zu verschließen. Meine Kerze war verloschen. Ich stieg die lange, düstere Treppe hinunter, die nur spärlich vom Licht aus den winzigen Wandschlitzen beleuchtet war. Einige Abschnitte musste ich in vollkommener Finsternis zurücklegen. Der Weg kam mir länger vor, als ich ihn in Erinnerung hatte, und ich war froh, als mein Fuß endlich den Beginn der nächsten Treppe fand. Am Fuß dieser Treppe bog ich falsch ab, und als ich beim dritten Mal mitten in einen Haufen Spinnweben rannte, wusste ich, dass ich mich verirrt hatte. Ich drehte um und tastete mich zurück. Als ich einige Zeit später Chades Kammer durch die Geheimtür hinter dem Weinregal betrat, war ich verstaubt, verärgert und verschwitzt. So war ich schlecht auf das vorbereitet, was mich dort erwartete.
Chade sprang von seinem Stuhl neben dem Kamin auf und stellte seine Teetasse ab. »Da bist du ja, FitzChivalric«, rief er im selben Augenblick, in dem mich eine Gabenwelle traf.
Sieh mich nicht, Stinkehund.
Ich geriet ins Taumeln und musste mich am Tisch festhalten, um nicht umzufallen. Ich ignorierte Chade, der mich anstarrte, um mich auf Dick konzentrieren zu können. Der schwachsinnige Diener stand mit rußgeschwärztem Gesicht am Arbeitsofen. Seine Gestalt waberte vor meinen Augen, und ich fühlte mich benommen. Hätte ich vergangene Nacht nicht meine Mauern zum Schutz vor Nessels Gabenspielereien neu aufgebaut, ich glaube, er hätte mit einem Schlag alle Bilder aus meinem Geist tilgen können. So jedoch konnte ich mit zusammengebissenen Zähnen sagen:
»Ich sehe dich. Ich werde dich immer sehen. Aber das heißt nicht, dass ich dir wehtun werde – es sei denn, du bist wieder so grob zu mir.« Ich war ernsthaft versucht, die Gabe gegen ihn einzusetzen, ihn mit schierer animalischer Energie zurückzuschleudern, aber ich tat es nicht. Ich würde die Gabe nicht benutzen. Dazu hätte ich meine Mauer fallen lassen müssen, und das wiederum hätte ihm die Grenzen meiner Kraft gezeigt. Dazu war ich noch nicht bereit. Bleib ruhig, ermahnte ich mich selbst. Du musst dich erst selbst beherrschen, bevor du ihn beherrschen kannst.
»Nein, nein, Dick! Hör auf damit. Er ist gut. Er darf hier sein. Das sage ich.«
Chade sprach mit ihm, wie mit einem Kleinkind. Während ich erkannte, dass die kleinen Augen in dem runden Gesicht nicht die eines geistig
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