Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 03 - Der weisse Prophet
und mir den Weg durch den Nebel zu leuchten. »Geh bergaufwärts«, sagte ich mir selbst. »Nur die Täler sind voller Nebel. Die Hügelkuppen werden frei sein.« Und so war es auch.
Als es mir schließlich gelang, Dicks Gabennebel hinter mir zu lassen, fand ich mich am Rand von Nessels Traum wieder. Dort stand ich eine Weile und blickte zu dem Glasturm auf dem Hügel über mir auf. Ich erkannte die Geschichte. Über mir war der ganze Hang von ineinander verschlungenen Fäden übersät, die an mir klebten wie Spinnfäden, als ich durch sie hindurch watete. Ich wusste, dass Nessel sich meiner Gegenwart bewusst war. Nichtsdestotrotz überließ sie mich mir selbst, und ich taumelte knöcheltief durch das Gewirr, das all die gebrochenen Versprechen repräsentierte, welche die falschen Liebhaber der Prinzessin gegeben hatten. In der alten Geschichte konnte nur ein aufrechter Mann diesen Weg beschreiten, ohne zu stürzen.
Im Traum war ich wieder der Wolf geworden. Es dauerte nicht lange, und meine vier Beine waren von dem Zeug verklebt, sodass ich stehen bleiben und es wegbeißen musste. Aus irgendeinem Grund schmeckten die Fäden nach Anis, in Maßen ein angenehmer Geschmack, doch ein Mundvoll davon ließ einen würgen. Als ich schließlich den Glasturm erreichte, war meine Brust nass, und Speichel tropfte aus meinem Maul. Ich schüttelte mich und fragte sie dann: »Willst du mich nicht einladen raufzukommen?«
Nessel antwortete nicht. Sie lehnte auf dem Balkongeländer und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Ich schaute hinter mich, nach unten, wo die Dornenzweige aus dem Nebel ragten. Kroch der Nebel zu uns hinauf? Als Nessel mich weiter ignorierte, trottete ich um den Turm herum. In der alten Geschichte gab es keine Tür, und Nessel hatte sie wortgetreu umgesetzt. Bedeutete das, dass sie auch einmal von einem Geliebten hintergangen worden war? Mein Herz machte einen Sprung, und einen Augenblick lang vergaß ich den Zweck meines Besuchs. Nachdem ich den Turm umrundet hatte, setzte ich mich auf meine Hinterbeine und blickte zu der Gestalt auf dem Balkon hinauf. »Wer hat dich betrogen?«, fragte ich sie.
Nessel starrte weiter auf die Landschaft hinaus, und ich glaubte schon, sie würde mir nicht antworten. Doch dann, ohne zu mir hinunterzuschauen, erwiderte sie: »Alle. Geh weg.«
»Wie soll ich dir helfen, wenn ich weggehe?«
»Du kannst mir nicht helfen. Das hast du mir selbst oft genug gesagt. Also kannst du ruhig weggehen und mich alleine lassen ... wie alle anderen auch.«
»Wer ist weggegangen und hat dich allein gelassen?«
Das brachte mir einen wütenden Blick von ihr ein. Mit leiser, schmerzerfüllter Stimme antwortete sie: »Ich weiß nicht, wie ich nur darauf kommen konnte, das du dich daran erinnerst. Mein Bruder, zum Beispiel. Mein Bruder Flink, von dem du behauptet hast, dass er wieder zu uns zurückkehren würde. Nun, das ist er aber nicht! Und dann ist da mein dummer Vater, der beschlossen hat, nach ihm zu suchen. Als ob ein Mann mit vernebeltem Blick überhaupt irgendetwas finden könnte! Und wir haben ihm gesagt, er solle nicht gehen; er hat es aber trotzdem getan. Und es ist irgendwas passiert, wir wissen nicht was, aber sein Pferd ist ohne ihn zurückgekommen. Also bin ich losgeritten, obwohl meine Mutter mich angeschrien hat, nicht zu gehen. Ich bin der Spur des Pferdes gefolgt und habe Papa neben der Straße gefunden. Blutig und zerschunden hat er versucht, sich auf einem Bein nach Hause zu schleifen. Ich habe ihn zurückgebracht, und dann hat meine Mutter mich erneut dafür beschimpft, dass ich ihr nicht gehorcht habe. Jetzt liegt Vater im Bett. Er starrt die Wand an und spricht mit niemandem. Meine Mutter hat uns verboten, ihm Branntwein zu bringen. Deshalb spricht er auch nicht mit uns und sagt, was passiert ist. Das wiederum macht meine Mutter wütend auf uns alle. Als wäre es meine Schuld.«
Zur Hälfte dieser Tirade begannen ihr die Tränen über die Wangen zu strömen. Sie tropften von ihrem Kinn, rannen ihr über die Hände und flossen schließlich die Turmwand hinunter. Nach und nach vereinigten sie sich zu schimmernden Bändern des Elends. Ich richtete mich auf die Hinterbeine auf und krallte danach, doch sie entzogen sich meinem Griff. Ich setzte mich wieder. Ich fühlte mich leer und alt. Ich versuchte, mir selbst einzureden, dass all das Leid in Mollys Heim nichts mit mir zu tun hatte, dass ich nicht die Ursache dafür war und dass ich es nicht heilen konnte, und
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