Die 39 Zeichen 08 - Die Entführung am Himalaya
Rucksack und breitete es auf dem Tisch aus.
Alistair beugte sich darüber, starr vor Überraschung. »Wo habt ihr denn das her? Aus dem Kaiserpalast?«
»Seien Sie einfach nur dankbar, dass Sie es überhaupt zu Gesicht bekommen«, erwiderte Nellie. »Also, was wissen Sie darüber?«
Der ältere Mann war stark beeindruckt. Er deutete auf den roten Signaturstempel in der unteren Ecke. »Das ist ohne Zweifel das persönliche Wappen von Pu Yi höchstpersönlich, dem letzten Kaiser von China.«
»Also stimmt es!«, keuchte Amy. »Zu der Qing-Dynastie gehörten Cahills.«
Alistair nickte. »Das ist in den asiatischen Linien unserer Familie durchaus bekannt. Es begann mit dem Kaiser Qian-long, der 1736 den Thron bestieg. Seine Mutter war mit den Janus aus der Mandschurei verwandt.«
»Aber Pu Yi war nur Kaiser, bis er sechs war«, überlegte Amy. »Das ist doch niemals die Arbeit eines Sechsjährigen.«
»Er war danach nicht mehr der Kaiser«, stimmte Alistair ihr zu, »aber er durfte das Leben eines Kaisers führen, bis er 18 war. Wie schon seine Vorfahren der Qing-Dynastie, wandte er sich in dieser Zeit den bildenden Künsten zu. Und wie wir jetzt wissen, suchte er nach den Zeichen.«
Amy deutete auf die Gleichung mit den Symbolen der Cahill-Familie. »Was hat das wohl zu bedeuten?«
»Das erklärt sich doch von selbst. Die Linien der Lucians, Janus, Tomas und Ekaterina ergeben unsere Familie.«
»Aber wenn es so offensichtlich ist, warum sollte man es dann wie ein großes Geheimnis behandeln?«, fragte Amy verwirrt.
Alistair wich ihrem Blick aus und konzentrierte sich stattdessen auf die chinesischen Schriftzeichen. »Das scheint ein Gedicht zu sein. Es heißt hier:
Was du suchst, hast du in der Hand,
Festgelegt auf alle Zeit bei der Geburt,
Wo die Erde dem Himmel begegnet.«
»Na, das erklärt ja alles«, spottete Nellie, die Alistairs Übersetzung auf eine Serviette gekritzelt hatte.
»Tolles Gedicht«, ätzte Amy. »Es reimt sich nicht mal.«
Alistair sah sie perplex an. »Du weißt doch sicher, Amy, dass Lyrik oft im freien Vers verfasst wird.«
»Klar«, erwiderte Amy unsicher. »Ich dachte nur, dass Dan das wahrscheinlich sagen würde, wenn er hier wäre.«
Das wirkte auf alle ernüchternd.
Schließlich unterbrach Alistair die traurige Stille. »Dann machen wir uns mal an die Arbeit.« Er überflog die Schlagzeilen der ersten Zeitung und blätterte dann auf Seite zwei.
Ein vertrautes Gesicht lachte den dreien entgegen.
»Jonah Wizard!«, rief Amy aus. »Wie kommt es, dass der Holzkopf hier in der Presse auftaucht?«
Alistair überflog den Artikel. »Es sieht so aus, als sei unser Rivale aus dem Janus-Zweig auch in Peking. Er gibt heute Abend ein Rap-Konzert im ›Vogelnest‹.«
»An das Stadion erinnere ich mich noch gut von den Olympischen Spielen her«, warf Nellie ein. »Wie soll ein Widerling ohne jedes Talent so ein großes Stadion füllen? Das fasst doch um die 80 000 Zuschauer.«
»Und wir sind zwei von ihnen«, verkündete Amy.
Nellie verzog das Gesicht. »Was hätte denn ein vermisster Junge auf einem Hip-Hop-Konzert zu suchen?«
»Denk mal nach, Nellie. Er beherrscht die Sprache hier nicht, er hat kein Geld, er kann nicht zur Botschaft gehen und er findet uns nicht. Jonah kennt er wenigstens.«
Alistair runzelte die Stirn. »Wir wollen Dan alle unbedingt finden, aber das scheint mir doch ziemlich weit hergeholt. Ich glaube, es hat wenig Sinn, da hinzugehen.«
»Vielleicht«, sagte Amy. »Aber es ist noch sinnloser, nicht hinzugehen.«
Neuntes Kapitel
Hinter der Bühne dröhnte das Soundsystem des Vogelnests geradezu ohrenbetäubend. Die Drums donnerten wie Granateinschläge. Doch das ausverkaufte Haus schluckte das Gefechtsfeuer und johlte nach mehr. 81 000 Menschen waren völlig aus dem Häuschen und rüttelten an dem Gitterzaun, der das berühmteste Stadion der Welt umgab.
Dan hatte sich nie besonders viel aus Jonah gemacht, sei es als Mensch oder als Musiker. Doch der Typ wusste definitiv, wie man ein Publikum in Fahrt brachte. Sogar wenn es sich um ein so gigantisch großes handelte, das nicht einmal Englisch sprach. Er beschwor seine Reime herauf wie Zeus einst seine Blitze. Und trotzdem wirkte es fast vertraulich, wenn er die Menschenmenge in seiner unkomplizierten Art ansprach – so als hätte jeder der 81 000 Zuschauer eine Privataudienz bei dem Megastar. Es war unglaublich.
Dan stand mit Jonahs Vater und einer Handvoll Roadies, Bodyguards und Musikjournalisten
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