Die 39 Zeichen 08 - Die Entführung am Himalaya
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Dan warf einen Blick in einen großen Raum, in dem mehrere Mönche – offenbar die besten Kung-Fu-Kämpfer – einen spektakulären Kampf bestritten. Die Bewegungen waren so schnell und dabei so flüssig und natürlich, dass der blitzschnelle Kampf auf den ersten Blick fast wie ein Tanz wirkte. Doch das war kein Ballett. Die Schläge und Tritte zischten durch die Luft wie Gewehrkugeln, die Körper erhoben sich in die Höhe, als sei jegliche Schwerkraft aufgehoben. Während Dan zusah, wurde ihm klar, dass die Kampfkunst, die er bis dahin gesehen hatte, im Vergleich dazu das reinste Kinderspiel gewesen war.
Erst nach einigen Minuten der Sprachlosigkeit flüsterte er: »Das ist das coolste Kung-Fu, das ich in meinem Leben gesehen habe!«
Li Wu Cheng lächelte nachsichtig. »Wir nennen es hier Wushu . Das Wort Kung-Fu bezieht sich auf jede Fähigkeit, die durch lange Übung perfektioniert wurde. Wushu dagegen bezeichnet ausschließlich die Kampfkunst. Hätte der junge Mann Lust auf eine Übungsstunde?«
Dans Herz wäre beinahe stehen geblieben. »Ich? Mit den Jungs da? Sie machen wohl Witze!«
»Im Shaolin-Orden machen wir keine Witze«, erwiderte der Abt mit ausdruckslosem Gesicht. »Wenn du willst, zeigen wir dir ein paar Bewegungen.«
»Und wie ich will!«, rief Dan begeistert. »Ich will!«
Die Busfahrt zur Chinesischen Mauer sollte 70 Minuten dauern, doch in diese Fahrzeit war der Verkehr in Peking offenbar nicht eingerechnet. Nach den angesetzten 70 Minuten steckten Amy und Nellie noch immer auf der Stadtautobahn fest. Es war gar nicht so einfach, Saladin zu beruhigen, denn der Ägyptische Mau bekundete ein durchaus überdurchschnittliches Interesse an einer dicken Henne, die ein Bauer eine Reihe vor ihnen auf dem Schoß balancierte.
»Mir tut das Hühnchen leid«, bemerkte Nellie. »Seine Lebenserwartung ist echt lausig – entweder bekommt Saladin sie in die Pfoten oder sie kommt in den nächsten Eintopf dieser Bauernfamilie. Egal, wie es ausgeht, am Ende ist sie futsch.«
Amy war in die dicke Taschenbuchausgabe von Pu Yi: Der letzte Sohn des Himmels vertieft, die sie in der Buchhandlung neben dem Busbahnhof erstanden hatte. Doch in Gedanken war sie immer bei ihrem Bruder. »Trägt hier jemand ein Jonah-Wizard-T-Shirt?«, fragte sie und sah die Sitzreihen entlang. »Wenn wir einen echten Fan finden, können wir ihm eventuell zu Jonah und Dan folgen.«
»Ich glaube nicht, dass das ein Fan-Bus ist«, erwiderte Nellie niedergeschlagen. »Eher ein Geflügel-Bus.«
Das Au-pair hatte seit ihrer Abfahrt am Busbahnhof schon nach T-Shirts Ausschau gehalten – und natürlich nach Kappen, Gürtelschnallen, PEZ-Spendern und dem Original-Wizard-Enterprises-Schmuck™. Sie hatte sich sogar an Teenager in Hip-Hop-Kleidung herangeschlichen in der Hoffnung, aus deren iPod-Kopfhörern Fetzen von Jonahs Musik zu erhaschen. Doch sie hatte kein Glück gehabt.
Wie hatten sie Dan nur verlieren können? Wenn Amy alles daran setzte, ihren Bruder zu finden, so galt das erst recht für Nellie. Nach außen war sie gefasst – es nützte ja nichts, Amy noch mehr zu beunruhigen. Doch das waren ihre Schützlinge, sie waren ihr anvertraut und einer davon wurde vermisst!
Na ja, eigentlich nicht vermisst. Dan war bei Jonah, was besser war, als wenn er völlig von der Bildfläche verschwunden oder in Isabel Kabras Fängen gelandet wäre. Jonah war nicht der Schlimmste der Cahill-Verwandtschaft. Allerdings führte er etwas im Schilde. Warum sonst hätte er sie wegen Dan anlügen sollen?
Nellies Anweisungen waren klar: »Natürlich ist es wichtig, Dan zu finden«, hatte die Stimme am anderen Ende der knackenden Leitung gesagt. »Aber nichts hat Vorrang vor der Jagd nach den Zeichen.«
»Sie reden hier von einem Elfjährigen!«, hatte Nellie in das Münztelefon geschrien.
»Der zufällig Grace Cahills Enkel ist«, hatte die Stimme hinzugefügt. »Er hat sich als recht einfallsreicher junger Mann erwiesen. Wir haben allen Grund, anzunehmen, dass er ganz gut allein zurechtkommt.«
Große Worte von jemandem, der viele Tausend Kilometer entfernt in einem holzgetäfelten Büro saß.
Die Geheimhaltung ihrer wahren Mission fand Nellie plötzlich nicht weniger anstrengend als die Jagd nach den Zeichen. Sie sank in den Sitz zurück und drückte Saladin an ihre Brust.
Ihr schlechtes Gewissen nahm kein Ende. Die armen Kinder waren praktisch von Geburt an betrogen worden – erst von ihren Eltern, die ihre
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