Die 39 Zeichen 09 - Ruf der Karibik
eigener Kraft befreien konnte, sie ihn aber auch nicht herausziehen konnten …
Dan schob diesen Gedanken beiseite.
Wie viel Zeit war vergangen? Eine Minute? Zwei Minuten? Das Wasser stand ihm bis zur Hüfte. War es bei der Treibsandgrube auch so tief gewesen? Oder waren sie schon zu weit draußen?
Wenn Lester doch nur den Arm aus dem Wasser strecken würde, damit sie sehen könnten, wo er war …
Dan keuchte, als ihn die Angst, so heftig wie ein Schlag in den Magen, überfiel.
Lester würde es versuchen.
Wenn er den Arm heben könnte, hätte er es schon getan.
Achtzehntes Kapitel
Dan hatte schon mal davon gehört, dass man einen Schock erleiden konnte. Er hatte immer gedacht, man wäre dann wie steifgefroren und könnte nicht sprechen oder Luft holen.
Aber das hier war anders. Er atmete in kleinen, flachen Zügen und zitterte am ganzen Körper. Seine Haut fühlte sich kalt und klamm an; auch von innen war er erfroren. Er hatte gehört, wie der Rettungssanitäter zu Amy und Nellie gesagt hatte: »Er hat einen Schock. Wir kümmern uns um ihn.«
Seit wann befand er sich schon in diesem Zustand? Seit Amy ihn im Wasser stehen gelassen hatte, um Hilfe zu holen? Seit sie zurückgekommen war? Oder seit er das Martinshorn gehört und der Strand sich mit Menschen gefüllt hatte – Polizei und Rettungswagen, neugierige Spaziergänger. Aber niemanden von ihnen nahm Dan wahr. Für ihn zählte nur eine Person.
Lester.
Sie mussten Dan aus dem Wasser zerren. Er wiederholte immer wieder, dass ihm nichts passiert sei, es ihm gut gehe, dass Lester aber in Lebensgefahr sei und sie ihn schnell finden müssten.
Sie hatten Lester an Land gebracht und bis dahin war Dan absolut ruhig geblieben, hatte sich neben Lester hingekniet, während die Helfer sich scheinbar stundenlang um ihn bemühten. Ein Polizist wollte ihn befragen, aber Dan weigerte sich, von Lesters Seite zu weichen. Er blieb, wo er war, und erzählte dem Polizisten, was geschehen war. Er fing bei Hugo und Anton an, die Lester aufs Meer hinaus nachgejagt waren, und schilderte dann, wie Lester den beiden geholfen hatte, sich aus dem Treibsand zu befreien. Der Beamte hatte ihn sehr behutsam behandelt und keine harten Fragen gestellt, deshalb hatte Dan nicht erklären müssen, warum die beiden Schläger Lester eigentlich verfolgt hatten.
Schließlich hatten sie Lester auf einer Trage weggebracht. Und selbst bis dahin war bei Dan vielleicht noch alles in Ordnung gewesen, aber als eine Rettungshelferin die Hecktüren des Krankenwagens schloss, dabei den Polizisten anblickte und den Kopf schüttelte, da wusste Dan, dass für Lester keine Hoffnung mehr bestand.
Das war der Moment, als der Schock einsetzte. Amy stand neben ihm und fing ihn auf, als er in die Knie sank. Ein Sanitäter half ihm auf eine Trage und legte mehrere Decken über ihn, aber Dan wurde nicht warm. Er konnte nur noch daran denken, wie kalt ihm war, wie es ihn schüttelte, wie er zitterte, mit den Zähnen klapperte und bis ins Mark fror.
Derart fror, dass ihm nie und nimmer wieder warm werden würde.
Das Krankenhaus behielt Dan über Nacht da, »zur Beobachtung«. Ab und zu kam eine Krankenschwester ins Zimmer, musste sich aber nicht allzu sehr um ihn kümmern. Das tat schon Amy.
Seit Stunden war sie Dan nicht von der Seite gewichen. Als die Sanitäter ihn in den Rettungswagen gebracht hatten, hatten sie zu erklären versucht, dass Minderjährige nicht als Begleitung mitfahren dürften, aber Amy hatte sich so heftig gewehrt, dass Nellie sie nur noch verwundert angestarrt hatte.
»Ich bin seine einzige Verwandte und sie ist unser Vormund«, hatte Amy erklärt und auf Nellie gezeigt. »Sie gibt mir die Erlaubnis, meinen Bruder zu begleiten.« Und ohne noch auf eine Antwort zu warten, war sie in den Rettungswagen gestiegen.
Dan hatte kein Wort gesagt, seitdem er unter Schock stand. Er hatte sie nur einmal kurz angesehen und in seinem Gesicht hatte so tiefe Verwirrung und Trauer gelegen, dass sich Amys Augen mit Tränen gefüllt hatten. Schließlich war er eingeschlafen und Nellie hatte Amy zu einem Sessel geführt und ihr befohlen, sich auszuruhen. Dann war das Au-Pair-Mädchen fortgegangen, um mit Miss Alice zu sprechen.
Die arme Miss Alice … Amy mochte kaum daran denken. Sie war so alt … würde sie die Nachricht verkraften?
Amy wachte etwa eine Stunde später auf. Bevor ihre Augen ganz geöffnet waren, stolperte sie schon an Dans Bett. Auch Nellie war wieder da.
Als spüre er ihre
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