Die 39 Zeichen 10 - Der Schlüssel zur Macht
Zuschauerraums, nicht weit von Jonahs Sitz, baumelte ein Seil herab. Jonah hätte nicht sagen können, ob es schon die ganze Zeit dort gehangen hatte oder nicht. Er drückte aber die Augen zu und schnappte es sich. Eigentlich hatte er nur an dem Seil herunterklettern wollen, rasch, damit niemand ihn sah, aber es schwang nach vorn. Vor Schreck ließ er es los.
Er landete auf der Bühne.
Bevor er noch darüber nachdenken konnte, was er dort machen sollte, stürzte jemand anderes genau auf ihn. Jemand in Tunika und Kniehose über einem Ninja-Kostüm. Jonah machte sich gar nicht erst die Mühe, das zu verstehen. Er schob die Person beiseite und stand auf.
Der verwirrt wirkende Ninja packte sich das Seil und rannte damit die Stufen zu Julias Balkon empor. Jonah sah sich um und entdeckte Amy und Dan, die von der Seite auf die Bühne kletterten. Als sie Jonah entdeckten, erstarrten sie.
Mum dachte, sie würden mir wieder trauen, aber das tun sie nicht , dachte Jonah verbittert. Und jetzt stehe ich hier dumm auf der Bühne und alle können mich sehen …
Jonah blickte in die Menge. Er hatte noch nie im Leben Lampenfieber gehabt, im Gegenteil, Zuschauer beruhigten ihn. Er hatte das Gefühl, als bräuchte er jetzt Zuschauer, seine Millionen Fans. Romeo-und-Julia-Begeisterte waren nicht gerade seine Zielgruppe, aber im Notfall würde es schon gehen. Die Zuschauer aber stampften wütend mit den Füßen und riefen »Runter von der Bühne!« und »Hört auf, das Stück zu stören!«.
Außerdem war das Publikum viel kleiner, als Jonah es gewohnt war. Er konnte einzelne Gesichter erkennen. Er konnte sehen, wie Alistair durch die Mitte zur Bühne schritt und die Leute mit seinem Stock zur Seite drängte. Er konnte Isabel, Ian und Natalie sehen, die kaltblütigen Lucians, denen er nach Ansicht seiner Mutter nacheifern sollte. Sie bahnten sich von links einen Weg durch die Menge. Und die Holts hatten offensichtlich hinter Jonah in der obersten Reihe gesessen. Denn sie schwangen sich gerade über das Holzgerüst nach unten.
Sie sind alle da , stellte Jonah entmutigt fest.
Hinter ihm schrie Julia auf.
Jonah wirbelte herum. Er war erleichtert über die Ablenkung. Erleichtert, dass es noch einen Moment dauern würde, bis er sich entscheiden musste. Er sah, wie Julia vom Balkon sprang. Sie wollte dem Ninja entkommen.
»Fang mich, du Idiot!«, schrie sie Romeo zu.
Romeo hielt die Arme hoch und fing sie unbeholfen auf, improvisierte dann aber: »Doch still, was springet durch das Fenster dort?«
Die Zuschauer, bis auf die Zeichenjäger, klatschten und jubelten.
Jonah wollte diesen Applaus. Er wollte schon immer Applaus. Von seinen Fans, von seinen Eltern, sogar von seinen verrückten zeichenjagenden Verwandten. Sein Blick wanderte zwischen Amy, Dan und den Zuschauern hin und her, seine Optionen klar vor Augen.
Warum muss ich entscheiden, wer mich liebt?
Und dann wusste Jonah, was er tun musste. Einfach so.
Er trat einen Schritt vor.
»Das hier ist für dich, Mum«, flüsterte er.
»Amy! Hier entlang!«, rief Dan.
Endlich gelang es Amy, die Starre abzuschütteln, in die sie verfallen war, als Jonah vor ihnen aufgetaucht war. Sie rannte Dan hinterher, über den vorderen Teil der Bühne, der regennass glänzte. Sie rutschte auf dem glitschigen Holz aus.
»Amy! Hier unten! Ich helfe dir!«
Amy entdeckte Alistair in der Menge. Er winkte ihr zu. Konnte sie ihm trauen?
»Wirf mir das Papier zu! Ich verwahre es!«, rief Alistair. »Dann kannst du dich an meinem Stock festhalten. Ich helfe dir da runter!«
Das glaubst du ja selbst nicht , dachte Amy. Wenn Alistair wirklich nur um ihre Sicherheit bemüht wäre, hätte er nicht zuerst nach dem Zettel gefragt.
Sie wich vom Rand der Bühne zurück und drehte sich in alle Richtungen, um Alistair, Jonah und die Pseudo-Ninjas im Blick zu behalten. Der Ninja hatte zwischenzeitlich das Seil am Balkon befestigt, damit seine zwei Begleiter ihm nachklettern konnten. Jetzt rannten alle drei verkleideten Ninjas auf Dan und Amy zu.
Amy legte einen Sprint hin.
Wenn wir es nur auf die andere Seite der Bühne schaffen …
Dan musste denselben Gedanken wie sie gehabt haben, denn auch er spurtete los. Er war genau vor ihr. Fast waren sie da, fast in Sicherheit …
Dan bremste schlitternd ab.
»Was ist?«, schrie Amy.
Dans Gesicht nahm eine ungesunde weiße Färbung an. Er ballte die Fäuste, taumelte zurück und schaffte es gerade so, sich auf den Beinen zu halten.
»Was?«, fragte sie.
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