Die 39 Zeichen 10 - Der Schlüssel zur Macht
als sie wieder einmal zwischen wechselnden Au-Pair-Mädchen ohne Betreuung gewesen waren, hatte er sich mitten in der Nacht oft die schlimmsten Horrorfilme angesehen. Filme, die ein Kind in Dans Alter mit richtigen Eltern niemals hätte sehen dürfen. Filme, in denen immer eine Bande wütender Dorfbewohner auftauchte, mit Heugabeln und Taschenlampen, zum Töten bereit.
Dan kam es so vor, als habe er genau diese wütende Meute vor sich. Sie lauerte am anderen Ende des Gangs.
Die restlichen Teams waren angekommen.
Sechzehntes Kapitel
Amy war es, als hätten sämtliche Shakespeare-Schurken reale Gestalt angenommen. Die überschatteten Gesichter von Mary-Todd, Reagan und Madison Holt erinnerten sie an die drei Hexen in Macbeth. Alistair war der dem Wahnsinn verfallene König Lear, der die Tochter bestrafte, die ihn am meisten liebte. Hamilton war Brutus aus Julius Cäsar, der angebliche Freund, der sich dem Mordkomplott anschloss. Jonah war der hinterhältige Richard III., der vorgab, ein guter Mensch zu sein, dabei aber einen Verwandten nach dem anderen tötete. Und Sinead war …
Amy wurde bewusst, dass sie hier nicht im Englischunterricht saß. Sie hatte keine Zeit, sich für alle eine passende Figur auszudenken.
Würden Dan und sie Zeit haben, ihr Leben zu retten?
Amy warf die Taschenlampe zu Boden und der Lichtstrahl zeigte auf die anderen Teams. Ihren Bruder und sie umgab nun absolute Finsternis.
»Amy, Dan … wir wollen euch nichts tun«, rief Alistair.
»Natürlich nicht«, rief Amy zurück. »Genauso wenig wie unseren Eltern, damals, vor sieben Jahren, stimmt’s?«
Sie brüllte so laut, dass ihre Stimme zitterte und ihre Ohren klingelten, damit sie Alistairs Antwort nicht hören musste.
Denk jetzt nicht darüber nach , sagte sie sich. Keine Zeit. Ein Plan muss her.
Amy bückte sich und hob das schmale Band auf. Die Enden des Stoffs trennten sich schon auf.
»Dan!«, flüsterte sie. »Hast du dir das genau angeschaut? Konntest du dir die Buchstaben merken?«
»Ja, denk schon«, erwiderte er. »Doch, sicher.«
»Also kann ich es zerstören?«, fragte Amy.
Dan sah sich das Band noch einmal an.
»Ja, mach nur«, flüsterte er.
Amy legte ein Ende des Bands unter die Vase mit den Blumen. Sie nahm den Metallstab vom Sargdeckel und reichte ihn Dan.
»Schlag ihnen damit auf den Schädel, falls nötig«, sagte sie grimmig.
Dann nahm sie die Taschenlampe und hielt den Lichtstrahl auf das andere Ende des Bands, das sie noch in der Hand hielt.
»Das hier ist der nächste Hinweis«, rief sie ihren Verwandten zu. »Wenn ihr es rechtzeitig hier nach vorn schafft, könnt ihr mich vielleicht daran hindern, das Band ganz aufzudröseln!«
Sie zog an dem Ende des Bands, das nicht unter der Vase klemmte. Es ließ sich bereitwillig in einzelne Fäden teilen. Amy hielt einen Faden des Bands fest in der Hand. Dann ließ sie die Taschenlampe fallen und fasste Dans Hand.
»Lauf!«, brüllte sie.
Dan war auf halbem Wege durch den Seitengang der Kirche, bevor er darüber nachdachte, was Amy vorhatte. Er sah, dass sie das Band aufdröselte und eine Fadenspur hinterließ. Aber warum?
Ach so , dachte er. Sie will, dass die anderen nach vorn rennen, um möglichst viel von dem Band zu retten, anstatt uns zu verfolgen. Sie will uns einen Vorsprung verschaffen .
Ging ihr Plan auf?
Dan und Amy erreichten die Tür, ohne dass Dan auch nur einmal den Metallstab schwingen musste.
Klasse, Amy! , dachte Dan. Er bereute fast, sie schwach besaitet genannt zu haben.
»Komm, wir verstecken uns auf dem Friedhof«, raunte Dan ihr zu.
»Nein … renn weiter«, flüsterte Amy. »Wir müssen zurück zu Nellie. Wir müssen raus aus Stratford.«
Dan hatte keine Ahnung, wie das funktionieren sollte. Klar, die anderen Zeichenjäger hatten sie noch nicht eingeholt, aber jeder der Holts konnte schneller rennen als Dan und Amy. Und wahrscheinlich waren auch Ian, Jonah und die Starlings schneller als sie. Wenn das hier ein Wettrennen werden sollte, würden Dan und Amy verlieren.
Sie sprinteten über den Friedhof und stolperten durch das Tor auf die Straße. Dan hörte Schritte hinter ihnen, die immer näher kamen.
»Nach links!«, flüsterte Dan. »Die rechnen alle damit, dass wir nach rechts laufen.«
Amy warf einen Blick nach hinten.
»Aber wenn sie uns schon sehen können …«
Ein Auto, das in der Dunkelheit verborgen am Straßenrand stand, ließ plötzlich die Scheinwerfer aufblitzen, sodass die Geschwister von grellem Licht
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