Die 4 Frau
sprang auf. »Es lässt sich nachweisen, dass die Zeugin Alkohol getrunken hatte, aber es gibt keinerlei Beweise dafür, dass sie
betrunken
war.«
Boyles grinste selbstgefällig und wandte mir dann den Rücken zu. »Ich habe keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
Ich spürte die großen feuchten Flecken unter meinen Armen, als ich aus dem Zeugenstand trat. Meine Beinverletzung hatte ich völlig vergessen, bis die Schmerzen sie mir jäh wieder in Erinnerung riefen. Ich humpelte zu meinem Platz zurück, noch niedergeschlagener als zuvor.
Ich sah Mickey an. Er lächelte mir aufmunternd zu, doch ich wusste, dass sein Lächeln aufgesetzt war.
Seine Stirn war von Sorgenfalten zerfurcht.
21
Die Art und Weise, wie Mason Broyles die Ereignisse des zehnten Mai auf den Kopf gestellt und mir die Schuld in die Schuhe geschoben hatte, schockierte mich zutiefst. Dieses Aas war wirklich ein Ass in seinem Job, und ich musste meine ganze Willenskraft aufwenden, um eine neutrale Miene aufzusetzen und ruhig sitzen zu bleiben, während Broyles sein Schlussplädoyer hielt.
»Euer Ehren«, sagte er, »Sara Cabot ist tot, weil Lindsay Boxer sie erschossen hat. Und der dreizehnjährige Sam Cabot wird für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Die Beklagte gibt zu, dass sie sich nicht an die polizeilichen Dienstvorschriften gehalten hat. Ich räume ein, dass ein gewisses Fehlverhalten seitens der Kinder meiner Mandanten vorgelegen haben mag, doch wir können von Minderjährigen kein ausgereiftes Urteilsvermögen erwarten. Polizeibeamte hingegen sind dazu ausgebildet, alle Arten von Krisen zu bewältigen, und die Beklagte war mit dieser speziellen Krise überfordert, weil sie betrunken war.
Um es kurz zu machen: Wenn Lieutenant Boxer ihre Pflicht getan und sich an die Vorschriften gehalten hätte, dann hätte sich diese Tragödie nie ereignet, und wir wären heute nicht hier.«
Broyles' Rede empörte mich, aber ich musste zugeben, dass er sehr überzeugend wirkte, und hätte ich auf der Zuschauertribüne statt auf der Anklagebank gesessen, ich hätte die Dinge vielleicht mit seinen Augen gesehen. Als Mickey sich erhob, um sein Abschlussplädoyer vorzubringen, pochte das Blut so heftig in meinen Ohren, als ob eine Rockband in meinem Schädel probte.
»Euer Ehren, Lieutenant Lindsay Boxer hat Sara und Samuel Cabot keine geladenen Feuerwaffen in die Hand gedrückt«, sagte Mickey mit einer Stimme, die vor Entrüstung bebte. »Das haben sie selbst getan. Sie haben ohne den geringsten Anlass auf wehrlose Polizeibeamte geschossen, und meine Mandantin hat das Feuer in reiner Notwehr erwidert. Das Einzige, was man ihr vorwerfen kann, ist ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Zivilisten, die diese Freundlichkeit in keiner Weise erwidert haben.
Es wäre nur recht und billig, Euer Ehren, diese Klage abzuweisen und dieser vorbildlichen Polizistin zu gestatten, ihren Dienst wieder aufzunehmen, ohne dass ihr makelloses Führungszeugnis durch eine Vorstrafe verunstaltet wird.«
Mickey war mit seiner Zusammenfassung schneller fertig, als ich gedacht hatte. Nachdem seine letzten Worte verhallt waren, tat sich eine Lücke auf, und in diese Lücke ergoss sich nun meine ganze Angst. Als er neben mir Platz nahm, begann der Gerichtssaal sich mit kleinen Geräuschen zu füllen – Papiergeraschel, das Klicken von Laptop-Tastaturen, das Knarren von Stühlen.
Ich ergriff Mickeys Hand unter dem Tisch, und ich fing sogar an zu beten.
Lieber Gott, lass sie die Klage abweisen, bitte
.
Die Richterin schob ihre Brille hoch, doch ich konnte ihre Miene nicht deuten. Als sie sprach, tat sie es in knappen Worten, und ihre Stimme klang müde.
»Ich bin davon überzeugt, dass die Beklagte alles getan hat, was in ihrer Macht stand, um eine Situation zu retten, die auf furchtbare Weise aus dem Ruder gelaufen war«, sagte Richterin Algierri. »Aber ich habe Bedenken wegen des Alkohols. Ein Mensch ist ums Leben gekommen. Sara Cabot ist tot. Es liegen ausreichende Gründe vor, diesen Fall an ein Geschworenengericht weiterzuleiten.«
22
Starr vor Schock hörte ich, wie der Termin für den Prozess festgesetzt wurde – schon in wenigen Wochen. Alle erhoben sich, als die Richterin den Saal verließ, und dann wurde ich von der Menge umringt. Ich sah ein paar blaue Uniformen am Rand des Pulks, Augen, die meinen Blicken auszuweichen schienen, und ein ganzer Wald von Mikrofonen wurde mir vors Gesicht gehalten. Ich hielt mich immer noch an Mickeys Hand
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