Die 4 Frau
die Flugbahn dieser Geschosse ermittelt, Dr. Washburn?«
»Ja. Die Schüsse wurden von unten nach oben abgefeuert, in einem Winkel von siebenundvierzig beziehungsweise neunundvierzig Grad.«
»Also, um es ganz deutlich zu sagen, Doktor: Sara Cabot hat zuerst auf Lieutenant Boxer geschossen – und diese hat das Feuer erwidert, als sie auf dem Boden lag?«
»Ja, so hat es sich meines Erachtens abgespielt.«
»Würden Sie in diesem Fall von ›übermäßiger Gewaltanwendung‹, widerrechtlicher Tötung‹ oder polizeilichem Fehlverhalten‹ sprechen?«
Die Richterin gab Broyles' wütendem Einspruch statt. Mickey dankte Claire und entließ sie. Er lächelte, als er auf mich zukam. Meine verkrampften Muskeln entspannten sich, und ich erwiderte sogar Mickeys Lächeln. Aber die Voruntersuchung hatte erst begonnen.
Die Angst fuhr mir in die Glieder, als ich in Mason Broyles Augen blickte. Sie schienen vor Vorfreude zu sprühen. Er konnte es kaum erwarten, seine nächste Zeugin aufzurufen.
17
»Bitte nennen Sie Ihren Namen«, sagte Broyles zu einer zierlichen brünetten Frau von Anfang dreißig.
»Betty D'Angelo.«
Ihre dunklen Augen hinter der großen Hornbrille zuckten kurz zu mir herüber und richteten sich dann wieder auf Broyles. Ich sah Mickey Sherman an, der nur ratlos die Schultern hochzog. Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, die Frau schon einmal gesehen zu haben.
»Und was tun Sie beruflich?«
»Ich bin staatlich geprüfte Krankenschwester am San Francisco General.«
»Hatten Sie am Abend und in der Nacht des zehnten Mai Dienst in der Notaufnahme?«
»Ja.«
»Haben Sie in dieser Zeit der Beklagten Lindsay Boxer Blut abgenommen?«
»Ja.«
»Und warum wurde ihr Blut abgenommen?«
»Wir haben sie für die OP vorbereitet, für die Entfernung der Geschosse und so weiter. Es war eine lebensbedrohliche Situation. Sie hatte sehr viel Blut verloren.«
»Ja, ich weiß, ich weiß«, sagte Broyles und wedelte ihre Bemerkung weg wie eine lästige Fliege. »Erzählen Sie uns was über die Blutprobe.«
»Es ist ein normaler Vorgang. Wir mussten ihre Blutgruppe bestimmen, wegen der Transfusionen.«
»Ms. D'Angelo, ich habe hier Lieutenant Boxers Patientenakte von der bewussten Nacht vor mir. Es ist ein ziemlich umfangreicher Bericht.« Broyles ließ einen dicken Stapel Papiere auf den Tisch des Zeugenstands klatschen und tippte mit dem Zeigefinger darauf. »Ist das Ihre Unterschrift?«
»Ja.«
»Ich möchte, dass Sie sich diese markierte Zeile hier ansehen.«
Die Zeugin warf den Kopf zurück, als hätte sie etwas Unangenehmes gerochen. Das Personal der Unfallstationen betrachtete sich häufig als Teil der Polizeitruppe und versuchte daher, uns zu schützen. Ich begriff nicht, worum es ging, aber diese Schwester wollte offensichtlich Broyles Fragen ausweichen.
»Können Sie mir sagen, was das da ist?«, fragte Broyles die Zeugin.
»Das? Sie meinen den EtOH-Wert?«
»Das steht für den Blutalkoholgehalt, nicht wahr?«
»Ja. Das ist die Abkürzung für Ethylalkohol.«
»Und was bedeutet 67?«
»Äh... das bedeutet, dass der Blutalkoholspiegel siebenundsechzig Milligramm pro Deziliter Blut betrug.«
Broyles lächelte und senkte seine Stimme zu einem leisen Schnurren. »In diesem Fall bedeutet es, dass Lieutenant Boxer 0,67 Promille Alkohol im Blut hatte, habe ich Recht?«
»Nun – ja, das ist richtig.«
»Ms. D'Angelo, 0,67 Promille – das heißt doch, dass die betreffende Person betrunken ist, nicht wahr?«
»Wir nennen es ›unter Alkoholeinwirkung‹, aber –«
»Ja oder nein?«
»Ja.«
»Ich habe keine weiteren Fragen«, sagte Broyles.
Ich fühlte mich, als hätte ich einen Hieb mit dem Vorschlaghammer auf den Kopf bekommen.
Herrgott, diese verfluchten Margaritas im Susie's!
Ich merkte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich, und fast wäre ich ohnmächtig geworden.
Mickey drehte sich zu mir um, und in seiner Miene stand die Frage geschrieben:
Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?
Ich sah meinen Anwalt mit offenem Mund an, und mein schlechtes Gewissen brachte mich fast um.
Ich konnte Mickeys ungläubigen Gesichtsausdruck kaum ertragen, als er, bewaffnet mit nichts als seinem Verstand, aufsprang und auf die Zeugin zutrat.
18
Im Verhandlungssaal C des Gerichts im San Francisco Civic Center gab es nur zwölf Sitzreihen und keine Geschworenenbank. Man hätte schwerlich einen zweiten Gerichtssaal finden können, in dem eine derart intime Atmosphäre herrschte. Ich bin mir
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