Die 5 Plage
Gesicht. Der Mann hatte offenbar eine Art Anfall - er war kreidebleich, atmete in kurzen, flachen Stößen und ruderte mit den Armen. Er versuchte, sich noch an der schreienden Frau auf dem Nachbarplatz festzuhalten, brach auf ihrem Schoß zusammen und rollte von dort auf den Boden.
»Rufen Sie einen Notarzt!«, rief Bevins einem Wachmann zu. »Die Sitzung ist bis vierzehn Uhr unterbrochen. Gerichtsdiener, bringen Sie die Geschworenen ins Geschworenenzimmer.«
Dann brach das Chaos aus.
Kramer sah, wie ein Mann mit Brille, ein Reporter der Chicago Tribune , mit aller Kraft den Notriegel an der Saaltür hinunterdrückte.
Ein ohrenbetäubender Alarm ertönte, während draußen auf der Treppe polternde Schritte zu hören waren. Das Notarztteam war da.
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Cindys Nerven flatterten, und sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, als die Verhandlung fortgesetzt wurde. Wieder und wieder lief in ihrem Kopf die schockierende Szene mit Mr. Friedlander ab: die Flüche und die Schreie, der Anblick des hilflos zusammenbrechenden Mannes, das schrille Kreischen des Alarms, als ihr neuer Freund Whit Ewing von der Chicago Tribune die Verriegelung des Notausgangs aufbrach.
Der Richter ließ seinen Hammer niedersausen, und das Flüstern und Raunen auf den Zuschauerrängen verstummte.
»Fürs Protokoll«, sagte Bevins. »Ich habe die Geschworenen einzeln befragt und mich davon überzeugt, dass der Zwischenfall von heute Morgen ihr Urteil in diesem Prozess nicht beeinflussen wird.«
Sein Blick ging zum Tisch der Verteidigung. »Mr. Kramer, sind Sie bereit fortzufahren?«
»Jawohl, Euer Ehren.« Kramer trat ans Pult. Sein freundliches Lächeln wirkte gezwungen.
Cindy beugte sich auf ihrem Sitz vor und legte die Hand auf Yukis schmale Schulter. »Jetzt geht’s los«, flüsterte sie.
»Meine Damen und Herren«, sagte Kramer, »ich habe gerade die Nachricht erhalten, dass Mr. Friedlander behandelt wurde und sich nach Einschätzung der Ärzte vollständig von seinem Herzinfarkt erholen wird.
Meine Mandanten und ich haben großes Mitgefühl mit Mr. Friedlander. Der Mann hat seinen Sohn verloren, und er leidet im Moment große Schmerzen.
Aber bei aller Betroffenheit, die wir in diesem Moment empfinden, Ihre Aufgabe als Geschworene ist es, diesen Fall auf der Basis von Fakten und nicht von Emotionen zu entscheiden.
Wie ich bereits sagte, ist es wichtig, zwischen menschlichen Fehlern und schuldhafter Vernachlässigung der Berufspflicht zu unterscheiden.
Es ist ein menschlicher Fehler, wenn eine Krankenschwester Medikamente auf einem Tablett verwechselt oder wenn ein Arzt durch einen anderen Notfall abgelenkt wird, sodass er vergisst, ein Krankenblatt zu aktualisieren, mit der Folge, dass der Patient dasselbe Medikament noch einmal verabreicht bekommt. Das sind normale Fehler.
Ärztliche Kunstfehler sind Fälle grober Fahrlässigkeit. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele - und ich möchte betonen, dass es sich bei allen Fällen um reale Vorkommnisse handelt.
Ein Arzt lässt einen Patienten auf dem OP-Tisch liegen und verlässt das Krankenhaus, um eine Einzahlung bei seiner Bank zu machen.
Ein andermal wird ein OP-Abdecktuch im Körper des Patienten vergessen.
Ein Arzt behandelt Patienten, während er betrunken ist oder unter Drogen steht, oder er verweigert die Behandlung aufgrund von Vorurteilen gegenüber einem bestimmten Patienten oder einer Gruppe von Patienten. Oder er empfiehlt wider besseres Wissen eine Behandlung, die der Patient nicht braucht.
Das sind echte Kunstfehler. Das ist grobe Fahrlässigkeit.
Was den Menschen widerfahren ist, um die es bei diesem Prozess geht, ist furchtbar. Das muss ich ihnen nicht sagen; Sie wissen es bereits.
Aber in jeder der Situationen, die Ihnen in diesem Gerichtssaal geschildert wurden, haben Ärzte und Schwestern, und sogar die Patienten selbst, die Art von Fehlern begangen, wie sie in Krankenhäusern im ganzen Land Tag für Tag passieren.
Menschliche Fehler. Echte Fehler.
So gerne wir auch glauben mögen, dass Ärzte unfehlbar sind - das ist nun einmal eine unrealistische Erwartung.
Ärzte und Krankenschwestern sind auch nur Menschen - Menschen, die anderen helfen wollen und dafür ihr Möglichstes tun.
Letztes Jahr wurden hundertfünfzigtausend Patienten mit Verletzungen und Krankheiten in das Municipal Hospital eingeliefert. Und ihnen wurde eine hervorragende medizinische Versorgung zuteil; eine Versorgung, wie sie in keinem anderen Krankenhaus dieser Stadt hätte besser sein
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