Die 5 Plage
Germaine sagte aus, sie sei in Haiti geboren. Sie sei keine US-Bürgerin, lebe aber seit fast zwanzig Jahren in diesem Land.
Darüber hinaus hatte sie nur wenig zu sagen. Sie saß mit hängenden Schultern auf ihrem Stuhl und rief immer wieder: »Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich bin ein guter Mensch.«
»Jetzt hören Sie endlich auf mit dem Gejammer«, herrschte Jacobi sie an und hämmerte mit der Faust auf den Tisch. »Erklären Sie mir, was es mit diesen verfluchten Todesknöpfen auf sich hat, und zwar so, dass ich’s verstehe. Sonst lassen wir Sie noch heute von der Einwanderungsbehörde in Handschellen nach Port-au-Prince ausfliegen, das schwöre ich Ihnen.« Das würde sicherlich nicht passieren, aber ich redete Warren nicht in seine Vernehmung rein.
St. Germaines Schultern begannen zu zittern. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte: »Ich will nicht mehr reden. Sie glauben mir ja doch nicht.«
Wenn ihre nächsten Worte lauteten »Ich will einen Anwalt«, wären wir geliefert.
»Okay, okay, Marie«, sagte ich. »Inspector Jacobi wollte Ihnen keine Angst einjagen. Wir müssen nur die Wahrheit herausfinden. Das verstehen Sie doch? Erzählen Sie uns einfach, was Sie wissen.«
Die Frau nickte. Sie griff nach der Packung Papiertaschentücher auf dem Tisch und putzte sich die Nase.
»Warum haben Sie diese Knöpfe in Ihrem Spind aufbewahrt, Marie? Fangen wir doch damit an.«
Endlich schien sie mich wahrzunehmen; sie wandte Jacobi den Rücken zu und fixierte aufmerksam mein Gesicht, meine Augen. Sie sah nicht aus wie eine Mörderin, und sie benahm sich auch nicht so, aber ich war nicht so naiv, mich von Äußerlichkeiten blenden zu lassen.
»Das haben wir auf der Schwesternschule so gemacht«, erzählte sie mir. »Und bei uns zu Hause legen wir den Toten auch immer Münzen oder Muscheln auf die Augen, damit die Seelen gut auf die andere Seite kommen. Sie können bei meiner Schule nachfragen. Werden Sie da anrufen?«
Ihre Stimme wurde kräftiger, als sie fortfuhr: »Ich hab den kleinen Jungen heute Morgen gefunden. Seine Zeit war noch nicht gekommen, also hab ich ihm die Münzen auf die Augen gelegt, damit man sieht, dass er für Gott bestimmt ist.«
Ich zog meinen Stuhl noch näher an St. Germaine heran. Es kostete mich ein wenig Überwindung, dennoch legte ich meine Hand auf ihre.
»Aber haben Sie ihm auch hinübergeholfen, Marie? Wollten Sie den kleinen Jungen von seinen Leiden erlösen? Haben Sie ihm deshalb etwas gegeben, damit er einschläft?«
Sie riss ihre Hand los und wich vor mir zurück, und ich fürchtete schon, ich hätte sie verloren.
»Eher hätte ich mich selbst umgebracht, als dass ich diesem Kind etwas zuleide getan hätte.«
Mein Blick ging zum Spiegel, und ich sah mein eigenes abgespanntes Gesicht. Ich wusste, dass die Hälfte der Leute, die diese Vernehmung verfolgten, der Überzeugung waren, dass sie an meiner Stelle diese Frau schon längst kleingekriegt und die Wahrheit aus ihr herausbekommen hätten.
Ich zog die Liste, die Carl Whiteley mir gegeben hatte, aus der Jackentasche und strich sie auf dem Tisch glatt. Dann drehte ich sie so, dass Marie die zweiunddreißig Namen lesen konnte, die entsetzliche Todesliste.
»Sehen Sie sich diese Liste an, Marie. Haben Sie Knöpfe auf die Augen dieser Leute gelegt?«
Es war lange still, während die Frau mit dem Finger über die Seite fuhr und mit den Lippen stumm die Namen formte.
»Ich habe ihnen Knöpfe auf die Augen gelegt, ja«, sagte sie schließlich. Sie setzte sich kerzengerade auf und starrte mich unverwandt an.
»Aber ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, dass ich keinem von ihnen ein Haar gekrümmt habe. Ich glaube, dass irgendjemand sie umgebracht hat. Und ich wollte dafür sorgen, dass Gott das erfährt. Und dass es auch in diesem Leben jemand erfährt.«
Hinter mir trat Jacobi so heftig gegen einen Stuhl, dass er durchs Zimmer flog und an die Wand knallte.
»Inspector!«, ermahnte ich ihn, doch mein Zorn war nur gespielt.
Dann sah ich wieder St. Germaine in die Augen. »Es ist alles okay, Marie. Konzentrieren Sie sich nur auf mich. Wieso haben Sie nicht die Polizei angerufen?«
»Ich brauche meinen Job, Lady«, sagte sie entrüstet. »Und überhaupt, was soll das denn bringen? Niemand hört auf jemanden wie mich. Sie glauben mir nicht. Das sehe ich an Ihren Augen.«
»Überzeugen Sie mich«, erwiderte ich. »Ich würde Ihnen wirklich gerne glauben.«
Marie St.
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