Die 50 Groessten Luegen Und Legenden Der Weltgeschichte
sowjetische Staatschef angeblich wenige Tage vor der Unterzeichnung des Vertrages im Moskauer Politbüro der KPdSU gehalten habe. Der Text der Rede wurde nach Kriegsbeginn über die Nachrichtenagenturen in Westeuropa verbreitet, nicht aber in Deutschland. Danach erläuterte Stalin am 19. August 1939 im Politbüro seine Strategie im Umgang mit dem Deutschen Reich. Ein Bündnis mit den Hitlergegnern Frankreich und Großbritannien könne einen Krieg verhindern undPolen retten, was aber nicht im Sinne der Sowjetunion sein könne. Denn der bessere Fall sei, so Stalin in dieser Rede, dass es zum Krieg in Europa komme, wenn Hitler Polen angreife und damit England und Frankreich zum Eingreifen zwinge. Das Kalkül der Rede ging dahin, der Sowjetunion Zeit zu verschaffen. Außerdem werde ein europäischer Krieg die Chancen einer »Sowjetisierung« Frankreichs erhöhen. Selbst wenn Deutschland den Krieg gewinne, werde es anschließend von inneren Problemen beansprucht und zu geschwächt sein, um eine Bedrohung für die Sowjetunion darzustellen. Natürlich wurde die Rede in Moskau umgehend dementiert − in der sowjetischen Regierungszeitung Prawda bezeichnete Stalin höchstselbst die Berichte als leeres Geschwätz und Kaffeehaus-Lügen.
Der Kriegsverlauf beschäftigte die europäische Öffentlichkeit mehr als eine angebliche Rede Stalins, und die Sache geriet in Vergessenheit. Dann aber gelangte im Sommer 1941 eine weitere Version des Redetextes an die Öffentlichkeit, die noch pointierter auf die Notwendigkeit eines europäischen Krieges hinwies: denn nur so könne die Diktatur der kommunistischen Partei nach Westeuropa ausgeweitet werden. Dafür aber müsse der Krieg möglichst lange dauern; letztlich werde aber auch Deutschland sozialistisch werden. Während die deutsche Propagandamaschinerie die Rede zuvor ignoriert hatte, lief sie jetzt auf vollen Touren. Mit dieser Ausrichtung diente Stalins Kriegstaktik der nunmehr antisowjetischen Propaganda. Das Schreckgespenst Weltrevolution hatte der Propaganda schließlich schon vor dem Hitler-Stalin-Pakt beste Dienste geleistet. Das fand nun, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion Ende Juni 1941 und nachdem der Hitler-Stalin-Pakt hinfällig geworden war, seine Fortsetzung.
Aber auch damit war die Karriere des Redetextes noch nicht beendet, denn 1942 erschien im Frankreich des Vichy-Regimeseine weitere Version − auffälligerweise gerade zu einem Zeitpunkt, als die Ergänzungen sich ausnehmend gut dafür eigneten, den immer heftiger werdenden Kampf der Vichy-Regierung gegen die Résistance zu legitimieren.
Nach dem Krieg tauchte die Rede erneut auf und wurde insbesondere von rechtsextremer Seite benutzt, um die Sowjetunion und den Kommunismus aufgrund seiner schamlosen Rolle im Zweiten Weltkrieg zu diskreditieren. Bis heute kann man immer wieder davon lesen, dass die Sowjetunion unter Stalin den Zweiten Weltkrieg ganz bewusst ins Kalkül fasste, um die Ausbreitung des Kommunismus nach Westen zu beschleunigen. Vor allem nach dem Ende der Sowjetunion wurde die Stalin-Rede in russischen Veröffentlichungen vermehrt angeführt. Angesichts der zahlreichen anderen Verbrechen Stalins erschien durchaus vorstellbar, dass der sowjetische Staatschef mit derart zynischen Überlegungen dem Zweiten Weltkrieg entgegengesteuert habe − sozusagen als feixender Gewinnler in einem Krieg, der Europa erschüttern würde. Einzelne Autoren gingen so weit, aufgrund jener Rede Stalin als eigentlichen Verursacher des Zweiten Weltkriegs auszumachen. Mit wechselnden Zielsetzungen diente der Text dazu, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs mal eben so umzuschreiben. Aber ist der Text der Rede überhaupt authentisch? Und wurde diese Rede des Genossen Stalin je gehalten?
Erst zu Anfang des 21. Jahrhunderts hat ein russischer Historiker die Geschichte dieser Rede eingehend untersucht. Einige Anhaltspunkte zur Aufklärung sind fast banal: Beispielsweise fand an dem Tag, an dem die Rede gehalten worden sein sollte, gar keine Politbüro-Sitzung statt. Der fragliche Text passt auch nicht zu der Tatsache, dass der Hitler-Stalin-Pakt kommunistische Organisationen aller Länder in Bedrängnis brachte. Denn ihnen fehlten noch eine Weile die Argumentationshilfen aus Moskau, um die Kehrtwende sowjetischer Außenpolitik rechtfertigenzu können. Mit der Rede hätte ihnen zumindest intern eine Argumentationshilfe zur Verfügung gestanden. Für eine Fälschung spricht außerdem, dass der Text erst drei Monate nach
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