Die 500 (German Edition)
über die rechte Augenbraue. Der Bursche war ein schwerfälliger Kleiderschrank, genau das Gegenteil von nervös. Keine gute Wahl, um jemandem ein Zeichen zu geben. Es wirkte un natürlich. Obendrein schaute er auch noch in Richtung des Empfängers – nur ein flüchtiger Blick, aber nicht zu übersehen.
Ohne ein weiteres Wort ging ich in die entgegengesetzte Richtung. »Ich muss mal kurz weg«, sagte ich. »Bin gleich wieder da.«
»Hey, was ist?« Er lief hinter mir her.
Während der ganzen Unterhaltung hatte Rivera nur davon gesprochen, worauf auch Henry scharf war: von Haskins’ Beweisen. Die Einzelheiten des Doppelmords – die für Rivera eigentlich vorrangig hätten sein müssen – hatte er fast völlig unerwähnt gelassen. Außerdem war er anscheinend nicht nur davon überzeugt, dass ich in dem Haus gewesen war, sondern auch, dass ich unter vier Augen mit Haskins gesprochen hatte. Von mir konnte er das nicht wissen. Vielleicht war ich paranoid, aber alles an seinem Auftritt stank. Es war vorbei.
Ich hatte mich immer für jemanden gehalten, der ein gutes Näschen für verdeckte Ermittler hat. An diesem Tag offenbar nicht. Während ich auf dem Weg nach draußen war, tauchte Riveras Verstärkung auf. Wo gerade noch ein Student, ein Rentner und ein Tourist gewesen waren, sah ich jetzt mehrere Männer, die eindeutig zu Rivera gehörten, mich beobachteten und wie Profis aussahen. Der Trick mit dem anderen Gebäude hatte mir zwar Zeit verschafft und ihren Plan durcheinandergebracht, aber jetzt hatten sie mich in der Zange.
Die meisten Kampferfahrungen hatte ich gemacht, als ich betrunken war, sehr betrunken. Folglich waren die Lektionen, die ich gelernt hatte, etwas verschwommen. Komischer Zufall. Trotzdem hatte ich bei der Navy zwei Sachen gelernt, die mich meist davor bewahrt hatten, dass man mir die Scheiße aus dem Leib prügelte.
Erstens: Als ich vor Rivera davonlief, bog ein Typ in Shorts und Baseballkappe um eine Ecke und versuchte mich am Kragen festzuhalten. Ich packte sein Handgelenk und drehte ihm den rechten Arm hinter den Rücken. Ich wusste aus eigener Erfahrung (Freibier, Feldjäger), dass das höllisch wehtat, besonders wenn man den Ellbogen gegen die natürliche Bewegungsrichtung nach hinten bog und die Bänder in der Schulter rissen wie nasse Spüllappen. Wie alle anderen Gorillas hatte auch meiner fünfzig Pfund Gewichtsvorteil, diese miesen Tricks waren meine einzige Hoffnung. Als der Typ sein Gleichgewicht verlor, drückte ich meine Hüfte gegen seinen Körperschwerpunkt und warf ihn über meine Schulter.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich Mr. Flavin mein aufrichtiges Bedauern über den Schaden ausdrücken, der dabei an seinen Röhren entstanden ist. Es war wirklich nicht meine Absicht, meinen Mann in die Richtung zu schleudern, obwohl ich zugeben muss, dass der Anblick der in einer Wolke aus Scherben und Funken zusammenkrachenden sechs Meter hohen Lichterwand ziemlich spektakulär war.
Als ich es bis nach unten auf die Atriumebene geschafft hatte, erkannte ich, dass ich in der Falle saß. Alle Ausgänge waren bewacht. Die Männer hatten etwas an sich, eine Art tödlicher Kompetenz, die mir sagte, dass das keine Polizisten waren, sondern Marcus’ Männer. Wenn ich mich jetzt wehrte, machte ich es nur noch schlimmer. Raus kam ich sowieso nicht, aber die Jungs wären dann echt sauer auf mich. Allerdings konnte ich mir nach der vergangenen Woche – sieben Tage seit den Morden – wirklich nichts Befriedigenderes vorstellen als zügellose Gewalt.
Als ich um eine Richard-Serra-Skulptur schlitterte – massive Stahlplatten in unmöglichen Winkeln –, tauchte wie aus dem Nichts Marcus höchstpersönlich neben mir auf. Er packte meine Hand mit einem Polizeigriff, der wesentlich wirkungsvoller war als der, mit dem ich seinen Lakaien ausgeschaltet hatte. Aus einem Taser in seiner Hand schoss ein kleiner Blitz. Er sagte, die Schmerzen könne ich mir ersparen, ich solle einfach mitkommen.
Da ich erst einen meiner beiden Trümpfe ausgespielt hatte, kam das überhaupt nicht infrage. Die Sohlen meiner Schuhe hatten harte Kanten. Ich schrammte mit einem Schuh an Marcus’ Schienbein entlang und stampfte ihm von der Seite so hart auf den Fuß, dass sein Knöchel umknickte – mit einem schnalzenden Geräusch, das mich zusammenzucken ließ.
Sein Griff wurde für den Bruchteil einer Sekunde schwächer, und ich schaffte es, mich einen halben Schritt von ihm zu lösen, bevor er mein Handgelenk wieder
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