Die 500 (German Edition)
Mengen.
»Ich muss mich eben sauber machen«, sagte er. Wir verließen die Werkstatt. Im Wald hinter der Tankstelle stand ein dreißig Jahre alter Wohnwagen mit einem Campingtisch, ein paar Klappstühlen und einem Grill davor: sein Zuhause.
Der Besitzer der Tankstelle, ein alter Freund meines Vaters namens George Cartwright, ließ ihn dort wohnen und den Laden leiten. Da aber nur zwei oder drei Burschen da arbeite ten, hieß leiten in der Regel volltanken und Dellen ausbeulen.
Die Ordnung im Innern des Wohnwagens empfand ich ein bisschen befremdlich: Alles war in rechten Winkeln angeordnet, das Bettlaken war so fest gespannt wie eine Trommel. Der Schreibtisch war mit Rechnungsbüchern und Lehrbüchern über Buchhaltung bedeckt. Auf der Küchentheke lag ein Dutzend Packungen Ramen.
Er bemerkte meinen Blick. »Ich mache die Bücher für George«, sagte er. Er hatte im Gefängnis Buchhaltung gelernt und trotz aller Knüppel, die man ihm zwischen die Beine geworfen hatte, sogar den Abschluss gemacht. Bargeld, Bücher mit festem Einband und Internet sind für Gefangene verboten. Er schrieb weiß Gott wie viele Briefe, spürte einen pensionierten Professor für Finanzwesen auf, der an einem Quäker-College unterrichtet hatte, und kämpfte sich durch alle Prüfungen. Hörte sich ein bisschen wie meine eigene Geschichte an, nur hundertmal härter. Je klarer mir wurde, wie ähnlich wir uns waren, desto wütender wurde ich, dass er so ein Totalversager war. Und wohl auch auf mich selbst, dass ich zu nett zu ihm war, dass ich ihm ermöglicht hatte, nach allem, was passiert war, wieder ins Leben zurückzufinden.
Ich musterte ihn in dem grellen Neonlicht. Er trug sein Haar immer noch wie früher, nicht gerade ein Vokuhila-Schnitt, aber im Nacken etwas länger. Es war inzwischen grau geworden. Aber er sah gesund aus. Anscheinend hatte er sich während der Knastzeit in Form gehalten, er hatte immer noch die Sprinterfigur aus Highschoolzeiten. Von einem Mundwinkel verlief eine gezackte Narbe die Backe hinauf. Wenn man ihn danach fragte, sagte er immer, er hätte sich im Gefängnis beim Rasieren geschnitten, lachte nervös und wechselte dann das Thema. Der zottelige Magnum-Schnauzer, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, hing immer noch über seine Oberlippe, und er trug immer noch knallbunte Bill-Cosby-Pullover mit Zickzackmuster – als wäre er per Zeitmaschine direkt aus dem Jahr 1994 eingetroffen. Was im Grunde ja auch stimmte.
Sechzehn Jahre Knast sind eine lange Zeit, und das merkte man auch. Da waren die Ramen und die Schreckhaftigkeit. Er mochte nicht, dass man ihn anfasste. Vor Türen blieb er einen kurzen Augenblick stehen, so sehr hatte er sich daran gewöhnt, dass jemand anders die Tür für ihn öffnete. Dann lachte er über sich selbst. Als wir das erste Mal zusammen essen gingen – zu Wendy’s – war er vollkommen überwältigt von der Speisekarte, von den vielen Wahlmöglichkeiten. Sechzehn Jahre lang hatte man ihm genau vorgeschrieben, was er zu essen hatte, wann er zu schlafen, aufzustehen, zu gehen, zu scheißen und zu duschen hatte. Er hatte fast vergessen, wie man eine eigene Entscheidung trifft. Wenn jemand aus Seinfeld zitierte oder ihm sagte, er solle etwas googeln, oder es plötzlich in den Jackentaschen der Leute, die neben ihm standen, zu klingeln anfing, dann stand ihm der massive Kulturschock ins Gesicht geschrieben. Zumindest war er normalerweise selbst der Erste, der seine Witze darüber riss, und die Leute um ihn herum konnten sich wieder entspannen.
Er hatte gesagt, dass wir uns hier in der Gegend zum Essen treffen sollten, druckste aber herum, als ich ihn fragte, wo genau. Ich fuhr. Er hatte keinen Wagen, saß also praktisch in der Tankstelle fest. Allerdings hatte Cartwright ihm gesagt, dass er den Cutlass benutzen könne, wenn er ihn wieder zum Laufen bringe.
Er zeigte mir den Weg. Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde, und wahrscheinlich wusste ich schon, bevor ich es mir selbst eingestehen wollte, wohin wir fuhren. Er versuchte mich mit alten Geschichten über Mutter weichzukochen. Die Geschichten waren Klassiker, aber um mich in Stimmung zu bringen, waren sie das Unpassendste, was er sich hatte aussuchen können.
Schätze, ich hätte es ihm vorher sagen können, aber ich hatte nicht den Mumm. Vor einem Block mit roten Ziegelbauten in Old Town Fairfax hielt ich an.
Es war verschwunden. Sal’s war ein großartiger Italiener gewesen. Na ja, aber was wusste ich schon? Es
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