Die 500 (German Edition)
konnte genauso gut grässlich gewesen sein. Schließlich war ich mit zehn das letzte Mal dort. Und das Essen war wirklich nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war, dass wir immer zu Sal’s gingen, wenn die Familie genügend Geld hatte, um einen draufzumachen. Als mein Vater und meine Mutter anfingen, miteinander auszugehen, das war jetzt Jahrzehnte her, waren sie oft zu Sal’s gegangen. Später nahmen sie meinen Bruder und mich mit. Sie schwelgten dann in wehmütigen Erinnerungen an die Zeit, als sie noch ein junges Liebespaar gewesen waren, tanzten vor der Bar und brachten ihre beiden Jungs in Verlegenheit.
Jack und ich verputzten das Knoblauchbrot, während sie in ihrer eigenen Welt schwebten und lachten wie Teenager. Gelegentlich ließ sich meine Mutter in seinen Armen nach hinten fallen, oder sie machten die eine oder andere schnelle Drehung, aber meist hielten sie sich eng umschlungen, wobei der Kopf meiner Mutter auf der Schulter meines Vaters lag.
Das war unser Restaurant. Jedenfalls früher mal. Jetzt war es ein Hunde-Spa mit einem Starbucks daneben.
Mein Vater stieg aus und stand vor dem Gebäude, das früher das Restaurant gewesen war. Ich stand neben ihm auf dem Gehweg und glaubte, er würde jeden Augenblick zusammenklappen. Allein bei seinem Anblick fühlte ich mich, als steckte ein Golfball in meinem Hals. Wenn wir nicht bald von hier verschwinden, dachte ich, kommen mir auch noch die Tränen.
»Alles in Ordnung, Dad?«
Keine Antwort. Ich hatte das Bedürfnis, ihm den Arm um die Schulter legen, wollte aber nicht, dass er ausrastete, also wartete ich erst mal ab.
»Dad?«
»Alles bestens, Mike.«
»Los, steig ein, wir fahren woandershin. An der 29 kenne ich ein anständiges Steakhaus.«
»Nein«, sagte er. Sein Atem ging ruckartig und rasselte, als hätte ihm jemand einen Schlag auf die Lungen verpasst.
»Bitte, ich …«
»Das ist zu knapp, Mike. Ich muss um zehn wieder zu Hause sein.« Er seufzte und schüttelte den Kopf, dann lachte er leise.
»Zapfenstreich. Nicht zu glauben, was? Ist Teil meiner Be währungsauflagen. Ich muss mich von meinem Telefon im Wohnwagen bei so einem Computer melden.«
»Du musst was essen, Dad.«
Er rieb sich ziemlich lange die Bartstoppeln.
»Ach was, scheiß drauf«, sagte er. »Wie wär’s mit Costco?«
Zwei Minuten später saßen wir an einem Metalltisch in einem riesigen, grell erleuchteten Großhandelsmarkt. Erst hatte ich geglaubt, mich verhört zu haben, als er sagte, dass er hier essen wolle, aber alles, was er wollte und wofür er Zeit hatte, waren ein paar italienische Bratwürstchen mit Paprika und Zwiebeln und eine Cola. Sie waren verdammt gut. Und es gab nur vier Gerichte auf der Karte, was es ihm wahrscheinlich etwas leichter machte.
Danach schlenderten wir noch durch die Gänge, und ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen, was zum Henker mein alter Herr hier eigentlich wollte.
»Dieser Laden hier …«, sagte mein Vater. Das ehrfürchtige Lächeln in seinem Gesicht war das eines Menschen, der zum ersten Mal in seinem Leben den Grand Canyon sieht.
Allmählich begriff ich. Wenn man überhaupt einen bezahlten bekommt, fangen Gefängnisjobs bei zwölf Cents die Stunde an. Eine Tube Zahnpasta kostet im Gefängnisladen fünf Dollar, wofür er erst ein kleines Formular ausfüllen und dann eine Woche warten musste, bis es wieder zurückkam. Für ihn war Costco mit seinem grellen Licht, den kreischenden Kindern und den Einkaufswagen schiebenden Kamikaze-Hausfrauen der Himmel auf Erden.
Während wir die Truhen mit der Tiefkühlkost umrundeten, redeten wir ein bisschen. Er arbeitete daran, das Examen zum amtlich zugelassenen Buch- und Rechnungsprüfer ablegen zu können. In den Übungstests erzielte er durchgehend Spitzennoten, aber jeder wegen Betrugs Vorbestrafte ist von diesem Examen ausgeschlossen. Den »Rehabilitierungsnachweis« zu führen würde ihn Jahre kosten, und dennoch könnten sie ihn ablehnen. Aber das kümmerte ihn nicht. Er war felsenfest entschlossen, sich wieder nach oben zu boxen. Er hatte vorgehabt, in die Bücherei zu fahren, weil es dort die Telefonbücher gab, die er brauchte, um die Adressen der Prüfungsstellen in den verschiedenen Bundesstaaten ausfindig zu machen, damit er anfangen konnte, Briefe zu schreiben und Anrufe zu tätigen. Da er dadurch aber einen Arbeitstag verloren hätte, kam das nicht infrage. Sein Leben glich einem Haufen Mikadostäbchen, jeder Stab drückte einen anderen nach unten und wurde von
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