Die 500 (German Edition)
manieriert, aber die Barkeeper behandelten ihre geistigen Getränke mit einer fast religiösen Hingabe. »Und danach tanzen?«
»Mal sehen.«
Sie lächelte und ging zur Treppe. »Ich mache mich gleich fertig, bevor du wieder zu dir kommst.«
Ich hatte noch zwei frische Rumpsteaks im Kühlschrank. Während Annie nach oben verschwand, erhitzte ich das Öl in der Pfanne und kümmerte mich um den Salat. Ich hörte, dass Annie das Radio im Schlafzimmer anstellte. Sie war ein Nachrichtenjunkie.
Sogar in meinem eigenen Kühlschrank fand ich nie etwas. Schätze, das sind die männlichen Gene. Ich lief die Treppe hoch, um Annie zu fragen, wo sich der Senf versteckt haben könnte.
Vor der Schlafzimmertür blieb ich wie angewurzelt stehen.
Kein Zweifel, das war die Stimme von Subjekt 23, die da aus dem Zimmer kam.
Ich stieß die Tür ganz auf.
Das war seine Stimme im Radio. Auf der Audiodatei war sie immer mit Gewalt befrachtet – der Angst, dass Henry dem Mann was antun könnte, und den Drohungen, dass er zurück schlagen würde. Jetzt klang seine Stimme vertrauenswürdig – ruhig, technisch, nüchtern.
»Bevor wir zur Frage der Auslieferung kommen«, sagte die blecherne Stimme im Lautsprecher, »sollten wir nicht zunächst die Zuständigkeit des Gerichts klären, ob nämlich die unterstellten Verbrechen das Völkerrecht verletzen?«
»Was ist das?«, fragte ich Annie.
»Was?«
»Na, das im Radio?«
»Keine Ahnung. Die Nachrichten.« Sie wandte sich am Frisiertisch um. »Irgendein Fall am Obersten Gerichtshof.«
Der Reporter sprach weiter: »Das war Richter Malcolm Haskins aus der mündlichen Verhandlung von letzter Woche zu einem Fall, der große Auswirkungen auf die internationalen Menschenrechtsgesetze haben könnte. Und jetzt nach Seattle, wo …«
Ich lief nach unten, klappte meinen Laptop auf und hörte mir jede greifbare Tonaufnahme von Richter Malcolm Haskins an. Jeder in Washington wusste, wer Haskins war. Aber nur wenige, wenn überhaupt, kannten ihn. Er hatte was von einem Einsiedler und hielt sich von den üblichen Partys und Galas fern. In der ganzen Zeit, in der ich jetzt plappernd durch die Partyszene von DC scharwenzelte, hatte ich ihn nur ein einziges Mal gesehen, auf der Party bei Chip. Und dann fiel es mir wieder ein: Dort war auch Irin gewesen.
Genau genommen verfügte er am Obersten Gerichtshof als beigeordneter Richter über weit mehr Macht als der vorsitzende Richter. Er gehörte zu den Moderaten, hatte also oft die entscheidende fünfte Stimme. In gewisser Weise gab es niemanden im Kapitol, der einflussreicher war: Er hatte seinen Arbeitsplatz auf Lebenszeit, er brauchte kein Geld für seine Wiederwahl aufzutreiben, er brauchte keine Deals abzuschließen, seine Entscheidungen konnten nicht aufgehoben werden.
Ich wusste, dass sein Name auf meiner Liste stand.
Ich fand ein paar Schnipsel von mündlichen Verhandlungen aus dem Vorjahr und hörte mir seine Stimme genau an. Dann spielte ich das Band mit dem abgehörten Gespräch von Subjekt 23 ab, das ich meinen Bossen in Kolumbien gestohlen hatte:
»… Ich wünschte, das wäre alles nur Paranoia. Ist es aber nicht. Der Mann, der die Information hat … ich glaube, ich habe ihn gefunden. Ich muss vor denen an ihn ran. Die würden alles tun, um das Beweismaterial in die Finger zu bekommen. Wenn die es zuerst kriegen, dann bin ich erledigt, sicher, da bin ich mir ganz sicher.«
Ich sprang zwischen den beiden Stimmen hin und her. Die eine gehörte einer Säule des Staates, die andere einem in die Enge getriebenen Mann, der gefährlich war und Angst hatte. Ich versuchte ruhig zu bleiben, nicht überzureagieren. Die Stimmen gehörten zu ein und demselben Mann: Malcolm Haskins.
»Mike!«, hörte ich Annie schreien. »Der Herd.«
Ein Fettbrand schoss etwa einen Meter in die Höhe. Schätze, ich hätte das Gas abdrehen sollen, bevor ich mich an den Laptop setzte. Ich stand auf, nahm den Deckel von einem Suppentopf und deckte die Pfanne zu. Die Flammen züngelten noch kurz an den Seiten heraus, dann erloschen sie.
Fast hätte ich mich, das Haus und das Mädchen meiner Träume abgefackelt. Aber die Rußflecken und der an der Decke entlangwabernde Qualm waren jetzt die geringsten meiner Probleme.
16
N achdem ich die Stimme auf der Audiodatei als die von Malcolm Haskins identifiziert hatte, begannen sich viele Rätsel der vergangenen Wochen aufzulösen. Zum Beispiel das der mündlichen Verhandlung, die ich zufällig im Radio gehört
Weitere Kostenlose Bücher