Die 500 (German Edition)
über Ihre Vergangenheit als Sie selbst. Marcus und ich hätten uns lieber mehr Zeit gelassen, um Sie aufzubauen, um Sie langsam in die Komplexität unserer Arbeit hier einzuführen, aber leider haben die Dinge ein bisschen Fahrt aufgenommen. Sie waren immer einer von der frühreifen Sorte. Sie haben das Zeug zu Größerem. Eines Tages können Sie ich sein. Es liegt an Ihnen.«
Er trat an mich heran und musterte mich eindringlich.
»Also, erzählen Sie. Im Haus, haben Sie da mit Haskins gesprochen? Hat er Ihnen irgendetwas gesagt? Hat er Ihnen irgendetwas gegeben?«
Ich spürte, dass Marcus’ Augen mich abtasteten. Er registrierte jedes Blinzeln, jedes Zucken, jeden Tropfen Schweiß. Als ob mein verräterischer Körper ihm jede Lüge offenbaren könnte.
»Nein«, sagte ich.
Marcus’ Augen blieben wachsam.
»In Ordnung«, sagte Henry schließlich. Schätze, ich hatte bestanden.
»Wir sind uns also einig, was das Wochenende angeht? Ist das korrekt?«
Sie spielten ihr Spiel gut, allerdings hatte ich auch nichts anderes von Davies erwartet. Ihre Geschichte, dass sie erfolglos versucht hatten, die Tragödie zu verhindern, klang gerade noch plausibel genug, um mein Gewissen zu beruhigen. Niemand betrachtet sich selbst als Verbrecher. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sich meine Erinnerungen veränderten, dass ich die Ereignisse des Abends in meinem Kopf so oft abspulen würde, bis ich schließlich Henrys Geschichte für wahr hielt.
Er machte mir das Ja so leicht, wie all die anderen kleinen Schritte, die ich getan hatte, seit ich bei der Davies Group angefangen hatte. Jeder war so winzig, dass man sie kaum wahrnahm. Dann schaut man sich eines Tages um und kann es kaum glauben und auch nichts mehr dran ändern: Man hatte seine Seele verpfändet. Henrys Fragen klangen so, als wollte er nur noch mal eben die Sitzordnung fürs Abendessen über prüfen, dabei ging es darum, einen Doppelmord und die Manipulation des Obersten Gerichtshofs zu vertuschen. Es war so leicht: ein einfaches Ja. Wieder waren alle Augen auf mich gerichtet.
»Ja«, sagte ich. »Absolut.«
»Ausgezeichnet, Mike. Sie wissen natürlich, dass wir bei Davies Loyalität belohnen. Marcus, wer war der Jüngste, der es bei uns zum Partner gebracht hat?«
»Collins. Er war sechsunddreißig.«
»Jetzt sind Sie der Spitzenreiter, Mike.«
»Danke«, sagte ich.
»Gehen Sie die Sache ruhig an. Diskretion ist natürlich entscheidend, aber deshalb muss das hier nicht unser letztes Gespräch gewesen sein.«
Davies fühlte mir noch etwa eine halbe Stunde lang auf den Zahn. Ich spielte mit wie ein guter Soldat und ließ mir meine Angst nicht anmerken, obwohl ich bei jedem meiner Worte ein Ziehen im Magen spürte und mir am Ende das Reden selbst Schmerzen bereitete.
»Dann sind wir uns also einig«, sagte er schließlich.
»Ja.«
Er gab mir die Plastikschale. Ich nahm meine Sachen, dann begleitete er mich zur Tür. Als ich sie gerade aufmachen wollte, legte er mir die Hand auf die Schulter, drehte mich zu sich um und schaute mir ins Gesicht.
»Wenn Sie sich an noch etwas erinnern, irgendetwas, was Sie vielleicht vergessen haben zu erwähnen, dann sollten Sie uns das sagen. Ich bin froh, dass wir uns so ausführlich unterhalten konnten. Sie verstehen jetzt sicher den Ernst der Lage, auch wenn ich nicht extra darauf verwiesen habe. Die Auf merksamkeit, der Druck werden gewaltig sein. Wenn Sie etwas zu sagen haben, kommen Sie zu uns. Sollten Sie nämlich woanders aus dem Nähkästchen plaudern, dann erfahren wir davon. Aber das wissen Sie sicher.«
»Absolut.«
Bis zum Zahltag ließen sie eine angemessene Zeit verstreichen, damit es nicht nach einer Gegenleistung aussah. Es handelte sich um einen Quartalsbonus und eine leistungsabhängige Gehaltserhöhung: übers kommende Jahr gerechnet, insgesamt zweihunderttausend Dollar. Marcus ließ mich wissen, dass die Auftragslage im Augenblick etwas flau sei und ich mir jederzeit eine Auszeit nehmen könne. Solange ich wolle.
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N imm das Geld und halt den Mund. Wenn ich das getan hätte, wäre alles viel einfacher gewesen. Aber wider besseres Wissen war ich noch nicht so weit, meine Seele an Henry zu verkaufen. Ich war noch nicht sein skrupelloser Handlanger, auch wenn es noch schlimmer kommen sollte und man mich schon bald als Doppelmörder suchen würde. Zu allem Ja zu sagen war die einzige Möglichkeit gewesen, das Gespräch mit Davies und Marcus unbeschadet zu überstehen. Wenn ich mich an Rivera oder das
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