Die 500 (German Edition)
den Knast gegangen, um meine Komplizen zu schützen. Ich wollte meine Familie schützen. Ich hatte keine andere Wahl. Vertrau mir. Diese Sachen gehen nie gut aus. Rede. Steig aus, solange du noch kannst.«
Die Haskins-Story war am frühen Morgen bekannt geworden. Ein Dutzend Fernsehreporter hatte sich auf Podesten gegenüber vom Obersten Gerichtshof postiert, sodass sie für ihre Bilder das Gebäude im Hintergrund hatten. Aufgereiht unter ihren Scheinwerfern, sahen sie aus wie Jahrmarktschreier. Die Fernsehteams und ihre Übertragungswagen hatten die fünf Blocks rund ums Kapitol praktisch abgeriegelt und für das perfekte Ambiente gesorgt.
Es war ein Zirkus, der nur in Washington möglich war: eine dünne Fassade aus öffentlicher Bedeutung, die die pure Geschmacklosigkeit übertünchte und es selbst den respek tabelsten Medien ermöglichte, sich an dieser Peepshow aufzugeilen. Die Presse hatte sich nahe dem Tatort in Paris einen provisorischen Außenposten eingerichtet. Die großen Net works füllten die Stunden vor dem Programm zur Hauptsen dezeit mit den letzten Neuigkeiten, die vier größten Sender übertrugen alle die Stellungnahme des Präsidenten zum Tod von Haskins.
Am nächsten Tag war die Neuigkeit schon zur Standarderöffnung jeder Unterhaltung selbst unter Fremden geworden. Überall auf der Straße wurde darüber gesprochen: Ich hab gehört, er hat sie umgebracht, während sie … Ich hab gehört, danach. Auf Drudge hab ich gelesen, dass man sie erstickt hat. Nein, erschossen.
Während der ganzen Woche hätte man meinen können, es gebe nichts anderes auf der Welt als diese beiden Toten. Ich verfolgte, wie sich Davies’ Vertuschungsgeschichte in den Köpfen von Millionen Menschen als Realität festsetzte und selbst vom Präsidenten verkündet wurde. Die ersten Indizien deuteten alle auf einen erweiterten Selbstmord hin. Henry musste sich um jedes einzelne Beweisstück, das seiner Fiktion widersprach, gekümmert und irgendwie Kontakt zu der Person aufgenommen haben, mit der der Richter bei seinem abgehörten Telefonat gesprochen hatte. Ich konnte mir nicht mal ansatzweise die Art von Einfluss, das Ausmaß an Hinterzimmerkungeleien und unterschwelligen Drohungen vorstellen, die ein derartiges Unternehmen erforderte.
Und ich wollte den Mann, der das alles organisiert hatte, zur Strecke bringen? Unmöglich.
Die große Frage schlug mir überall entgegen, ich konnte ihr nicht entgehen, der Druck lastete so stark auf mir wie der des Ozeans auf einem Tiefseetaucher: Wer hatte Malcolm Haskins und Irin Dragov i ´ c getötet? Eine Zeit lang konnte ich noch so tun, als würde ich ganz normal meiner Arbeit nachgehen, bis ich schließlich nur noch mit einem selbst gemalten Schild vor dem Weißen Haus stehen und die Wahrheit so lange wie durchgedreht herausschreien wollte, bis die Polizei mich wegzerrte.
Annie spürte, dass etwas nicht stimmte. Am Abend, nachdem ich mit meinem Vater gesprochen hatte, lockte sie mich zu einem Spaziergang außer Haus, damit ich mich nicht hinter meinen tausend vorgeschobenen Ausreden – Arbeit, E-Mails, Telefonate – verstecken konnte, um nicht darüber reden zu müssen, was mich umtrieb. Wir gingen durch Adams Morgan und machten einen Riesenbogen um Kalorama und den Firmensitz der Davies Group.
Auf der Duke Ellington Bridge, einer Kalksteinbrücke über den Rock Creek Park, blieben wir stehen.
»Was ist am Samstag wirklich passiert, Mike?«
Wahrscheinlich hatte mein geisterhafter Blick nach den Morden sie davon abgehalten, mich mit Fragen zu löchern. Aber ich hatte gewusst, dass sich das ändern würde.
»Es ist jemand getötet worden«, sagte ich. »Ich wollte es verhindern, aber ich konnte nicht.«
Sie schaute hinauf zu den Wolken, die an einem sichelförmigen Mond vorüberzogen.
»Haskins.«
Ich sagte nichts.
»Du bist nicht allein, Mike. Sag mir, wie ich dir helfen kann.«
»Ich will nur, dass du in meiner Nähe bist, das ist alles.«
Ich lauschte dem Wasser, das unter uns über die Flusssteine plätscherte, und umklammerte das Geländer. Annie ließ mich nicht aus den Augen.
»Da ist was furchtbar schiefgelaufen. Zum Teil wegen mir. Aber ich bringe das wieder in Ordnung. Ich bringe die Wahrheit ans Licht. Auch wenn das heißt, dass ich mich gegen Henry Davies wenden muss.«
Sie stand jetzt dicht neben mir und rubbelte mir den Rücken.
»Ich muss dich noch was fragen«, sagte ich. »Hört sich vielleicht dumm an die Frage, aber ich hab keine Ahnung, wie das
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