Die 6. Geisel - Thriller
von ihm wenden.
»Meine Damen und Herren, als Sie für diesen Prozess ausgewählt wurden, gaben Sie alle an, dass Sie das ›Rooney-Video‹ von der Tragödie auf der Del Norte gesehen hätten. Sie sagten, Sie sähen sich in der Lage, unvoreingenommen über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu urteilen. Und Sie versprachen, Mr. Brinkley auf der Grundlage dessen zu beurteilen, was Ihnen in diesem Gerichtssaal bewiesen wird.
Deswegen will ich Ihnen noch einmal schildern, wie es war
an diesem 1. November an Bord der Del Norte , damit Sie die Ereignisse frisch vor Ihrem geistigen Auge haben.
Es war ein wirklich schöner Tag für einen Ausflug mit der Fähre«, begann Parisi. »Um die fünfzehn Grad und leicht bewölkt. Viele der Touristen trugen Shorts, denn San Francisco liegt ja schließlich in Kalifornien, nicht wahr?«
Gelächter war die Reaktion - Leonard Parisi hatte mit seinem Eröffnungsplädoyer den richtigen Ton getroffen.
»Es war ein wunderschöner Tag, der zum Albtraum wurde, weil auch der Angeklagte, Alfred Brinkley, an Bord dieser Fähre war.
Mr. Brinkley war pleite, doch er hatte auf dem Farmer’s Market ein Ticket gefunden und beschlossen, mit der Fähre zu fahren. Er hatte eine geladene Schusswaffe in der Tasche, einen sechsschüssigen Revolver.
An diesem Tag nahm Mr. Brinkley die Fähre nach Larkspur, ohne dass es zu irgendwelchen Zwischenfällen kam, doch auf der Rückfahrt, als die Fähre in San Francisco anlegte, beobachtete der Angeklagte einen Wortwechsel zwischen Andrea Canello und ihrem kleinen Sohn, einem reizenden neunjährigen Burschen namens Tony.
Aus Gründen, die nur er selbst kennt, zog Mr. Brinkley seinen Revolver und schoss die dreißigjährige Mutter in die Brust.
Sekunden später war sie tot, gestorben vor den Augen ihres kleinen Sohnes«, fuhr Parisi fort. »Dann richtete Mrs. Canellos Sohn seine großen, schreckgeweiteten Augen auf den Mann, der gerade seine Mutter erschossen hatte - und was tat Alfred Brinkley?
Er erschoss Tony Canello, einen kleinen Jungen, der mit nichts als einer Tüte Erdbeereis bewaffnet war. Tony ging in die vierte Klasse, freute sich schon auf Thanksgiving und auf das Mountainbike, das er sich zu Weihnachten gewünscht hatte, und aufs Erwachsenwerden.
Das alles hat Mr. Brinkley Tony Canello weggenommen. Er starb noch am gleichen Tag im Krankenhaus.«
Die schmerzerfüllten Gesichter der Geschworenen zeigten, dass Parisi sie schon gepackt hatte. Eine von ihnen, eine junge Frau mit knallig magentafarbenen Haaren, biss sich auf die Lippen, während die Tränen ihr über die Wangen strömten.
Leonard legte eine respektvolle Pause ein und ließ die Geschworene weinen.
64
In diesem Moment wandte Richter Moore sich an die sechs Männer und sechs Frauen auf der Geschworenenbank. »Brauchen Sie eine Pause? Nein? Okay, dann fahren Sie bitte fort, Mr. Parisi.«
»Danke, Euer Ehren«, erwiderte Parisi. Als er einen flüchtigen Blick in Richtung Verteidigertisch warf, sah er, dass Mickey Sherman ihm den Rücken zukehrte und seinem Mandanten etwas zuflüsterte - eine herablassende Geste, die demonstrieren sollte, dass Parisis Eröffnung die Verteidigung nicht im Geringsten aus der Ruhe gebracht hatte.
Sehr clever. Parisi wusste, dass er selbst es nicht anders gemacht hätte.
»Ich sagte Ihnen, dass die Del Norte gerade in San Francisco anlegte, als Mr. Brinkley Andrea und Tony Canello erschoss. Das Anlegemanöver machte eine Menge Lärm, und es übertönte die zwei Revolverschüsse.
Aber ein paar Leute begriffen trotzdem, was da passiert war.
Mr. Per Conrad arbeitete an jenem Tag als Maschinist auf der Del Norte . Er war ein Familienvater, mit einer Frau und vier prächtigen Kindern, und er hatte noch zwei Jahre bis zur Rente. Er sah Alfred Brinkley mit der Waffe in der Hand, und er sah die blutenden Körper von Andrea und Tony Canello auf dem Deck liegen.
Mr. Conrad stürzte sich auf Mr. Brinkley, um ihn zu entwaffnen, doch Brinkley zielte und schoss Mr. Conrad zwischen die Augen.
Mr. Lester Ng war ein Versicherungsmakler aus Larkspur, der in San Francisco einen geschäftlichen Termin hatte. Auch er war Familienvater, ein ehemaliger Pilot der U.S. Air Force. Und auch er versuchte Mr. Brinkley die Waffe zu entreißen.
Er bekam eine Kugel in den Kopf. Mr. Brinkleys Revolver war das Letzte, was Mr. Ng in seinem Leben sah.
Beide Männer handelten selbstlos. Sie waren Helden. Und deshalb mussten sie sterben.
Aber Mr. Brinkley war noch immer nicht
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