Die 6. Geisel - Thriller
also auch nicht wissen, wenn er zwei Lobotomien und eine Herztransplantation gehabt hätte, seit Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«
»Ha, ha, das ist witzig! Äh - stimmt das denn?«
»Worauf ich hinauswill, Mr. Quintana, ist, dass der Sechzehnjährige, den Sie einen ›ganz lieben Kerl‹ genannt haben, sich vielleicht verändert hat. Sind Sie derselbe Mensch, der Sie vor fünfzehn Jahren waren?«
»Na ja, heute hab ich wesentlich mehr Sachen .«
Schallendes Gelächter kam von den Zuschauerreihen; sogar die Geschworenen glucksten vernehmlich. Yuki lächelte, um zu demonstrieren, dass es ihr - Gott bewahre! - nicht an Sinn für Humor mangelte.
Als wieder Ruhe einkehrte, fuhr sie fort: »Ike, als Sie sagten, Mr. Brinkley sei verrückt, war das Ihre private Meinung als sein Freund, nicht wahr? Sie wollten damit nicht ausdrücken, dass er im juristischen Sinne unzurechnungsfähig ist? Dass er nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann?«
»Nein. Darüber weiß ich gar nichts.«
»Danke, Mr. Quintana. Ich habe keine weiteren Fragen.«
93
Shermans nächster Zeuge, Dr. Sandy Friedman, kam den Mittelgang herauf und betrat den Zeugenstand. Er war ein guter Therapeut, Harvard-Absolvent und entsprach auch in seinem Äußeren dem Bild des seriösen Psychiaters, mit seiner Designerbrille, der Brooks-Brothers-Krawatte und den markanten Gesichtszügen, die entfernt an Liam Neeson erinnerten.
»Dr. Friedman«, begann Sherman, nachdem der Zeuge vereidigt worden war und seinen Namen und Beruf genannt hatte, »Sie hatten Gelegenheit, mit Mr. Brinkley zu sprechen?«
»Ja, insgesamt drei Mal, seit er in Untersuchungshaft ist.«
»Haben Sie seine Krankheit diagnostiziert?«
»Ja. Meiner Ansicht nach leidet Mr. Brinkley an einer schizoaffektiven Störung.«
»Könnten Sie uns erklären, was das bedeutet?«
Friedman lehnte sich auf dem Stuhl zurück, während er sich seine Antwort zurechtlegte. Dann sagte er: »Eine schizoaffektive Störung ist eine Störung des Denkens, Fühlens und Handelns, die Elemente einer paranoiden Schizophrenie aufweist. Man kann sie sich als eine Art bipolarer Störung vorstellen.«
»›Bipolar‹ - das heißt so viel wie manisch-depressiv, nicht wahr?«, fragte Sherman.
»›Bipolar‹ in dem Sinne, dass Menschen mit einer schizoaffektiven Störung Hoch- und Tiefphasen haben; dass Verzweiflung und Depression sich mit Hyperaktivität oder manischen Stimmungen abwechseln. Allerdings haben die Patienten ihre Krankheit oft über längere Zeiträume so gut im Griff, dass sie sich mehr oder weniger erfolgreich am Rand der Gesellschaft eingliedern können.«
»Hören solche Menschen auch Stimmen , Dr. Friedman?«
»Ja, das kommt häufig vor. Das wäre einer der schizoiden Aspekte dieser Krankheit.«
»Bedrohliche Stimmen?«
»Ja.« Friedman lächelte. »Das wäre dann die Paranoia.«
»Hat Mr. Brinkley Ihnen gesagt, dass er glaubte, die Leute im Fernsehen würden mit ihm sprechen?«
»Ja. Das ist ein recht verbreitetes Symptom schizoaffektiver Störungen - ein Beispiel für den Verlust des Realitätsbezugs. Und die Paranoia verleitet ihn zu dem Glauben, dass die Stimmen sich an ihn richten.«
»Könnten Sie erklären, was Sie mit diesem ›Verlust des Realitätsbezugs‹ meinen?«
»Gewiss. Seit dem Ausbruch der Krankheit in Mr. Brinkleys Jugend waren sein Denken und sein Handeln, die Art, wie er seine Gefühle ausdrückt, immer einer Verzerrung unterworfen - und vor allem auch seine Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das ist das psychotische Element: seine Unfähigkeit, Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden.«
»Danke, Dr. Friedman«, sagte Sherman. »Kommen wir nun zu den jüngsten Ereignissen, wegen denen Mr. Brinkley vor Gericht steht. Was können Sie uns darüber sagen?«
»Bei einer schizoaffektiven Störung kommt es in der Regel zu einem auslösenden Ereignis, das eine Verstärkung des abweichenden Verhaltens bewirkt. Meines Erachtens war dieses auslösende Ereignis in Mr. Brinkleys Fall der Verlust seiner Arbeitsstelle. Das plötzliche Wegfallen der täglichen Routine, dazu die Kündigung seiner Wohnung - all das dürfte seine Krankheitssymptome verschärft haben.«
»Aha. Dr. Friedman, hat Mr. Brinkley mit Ihnen über den Amoklauf auf der Fähre gesprochen?«
»Ja. In unseren Sitzungen habe ich erfahren, dass Mr. Brinkley seit seinem sechzehnten Lebensjahr, als seine Schwester bei einem Segelunfall ums Leben kam, nicht mehr an Bord eines Bootes gewesen war. Am Tag
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