Die 6. Geisel - Thriller
davonläuft, wie Alfred Brinkley es getan hat, beweist er damit nicht sein Unrechtsbewusstsein? Zeigt das nicht, dass Mr. Brinkley wusste, dass sein Tun unrecht war?«
»Sehen Sie, Ms. Castellano, nicht alles, was jemand im Zustand einer Psychose tut, ist notwendigerweise unlogisch. Die Menschen auf dieser Fähre haben geschrien, haben sich auf
ihn gestürzt in der offensichtlichen Absicht, ihm wehzutun. Er lief davon. Die meisten Menschen hätten in dieser Situation die Flucht ergriffen.«
Yuki warf David einen verstohlenen Blick zu, und er nickte ihr aufmunternd zu. Sie wünschte, er hätte ihr etwas schicken können, womit sie Friedman drankriegen könnte - denn sie hatte nichts dergleichen.
Aber dann glaubte sie es doch gefunden zu haben.
»Dr. Friedman, spielt das Bauchgefühl auch eine Rolle bei Ihren Beurteilungen?«
»Aber sicher. Was wir ›Bauchgefühl‹ oder Intuition nennen, ist das Produkt unserer gesammelten Erfahrungen. Und deshalb sage ich: Ja, ich stütze mich bei meinen Beurteilungen ebenso auf mein Bauchgefühl wie auf formalisierte psychologische Verfahren.«
»Und haben Sie feststellen können, ob Mr. Brinkley gefährlich ist oder nicht?«
»Ich habe mit Mr. Brinkley gesprochen, bevor und nachdem er auf Risperdal gesetzt wurde, und meine Meinung ist, dass Mr. Brinkley bei entsprechender Medikation nicht gefährlich ist.«
Yuki legte beide Hände auf die Einfassung des Zeugenstands und sah Friedman in die Augen. Sie ignorierte alles und jeden um sich herum und sprach allein aus der Angst heraus, die sie jedes Mal empfand, wenn sie dieses Monster anschaute, das da neben Mickey Sherman saß.
»Dr. Friedman, Sie haben mit Mr. Brinkley hinter Gittern gesprochen. Stellen Sie Ihrem Bauchgefühl doch einmal diese Frage: Wäre Ihnen wohl dabei, wenn Sie mit Mr. Brinkley in einem Taxi nach Hause fahren müssten? Würden Sie sich sicher fühlen, wenn Sie mit ihm in seiner Wohnung zu Abend essen sollten? Oder allein mit ihm im Aufzug fahren?«
Mickey Sherman sprang auf: »Euer Ehren, ich erhebe Einspruch. Diese Fragen haben in einer Gerichtsverhandlung nichts verloren!«
»Stattgegeben«, brummte der Richter.
»Ich bin fertig mit diesem Zeugen, Euer Ehren«, sagte Yuki.
95
Um halb neun an diesem Montagmorgen nahm Miriam Devine den Stapel Post von der Ablage in der Diele und setzte sich damit in die Frühstücksecke.
Sie und ihr Mann waren erst am Abend zuvor von ihrer Mittelmeer-Kreuzfahrt zurückgekehrt, zehn traumhaften Tagen, unbehelligt von Telefon und Fernseher, Zeitungen und Rechnungen.
Liebend gerne hätte sie sich wenigstens noch für ein paar Tage die reale Welt vom Leib gehalten, sich dieses Urlaubsgefühl noch ein Weilchen bewahrt. Aber das war leider unmöglich.
Miriam setzte Kaffee auf, toastete zwei Zimtbrötchen aus dem Gefrierfach und nahm sich dann die Post vor. Die Werbung stapelte sie auf der rechten Seite des Küchentischs, die Rechnungen auf der linken und alles andere hinter ihrem Kaffeebecher.
Als sie den schlichten weißen Umschlag fand, der an die Tylers adressiert war, steckte sie ihn zuunterst in ihren »Sonstiges«-Stapel. Dann stellte sie weiter Schecks aus und sortierte Reklamesendungen aus, bis Jim zu ihr in die Küche kam.
Ihr Mann trank seinen Kaffee im Stehen und sagte: »Mensch, ich habe nicht die geringste Lust, ins Büro zu gehen. Es wird die Hölle - auch wenn keiner merkt, dass ich überhaupt da bin.«
»Ich mache uns Hackbraten zum Abendessen, Liebling. Den isst du doch so gern.«
»Okay. Wenigstens etwas, worauf ich mich freuen kann.«
Jim Devine verließ das Haus und zog die Tür hinter sich zu. Miriam erledigte die restliche Post, spülte das Geschirr ab und telefonierte mit ihrer Tochter, ehe sie ihre Nachbarin Elizabeth Tyler anrief.
»Liz, Liebes, Jim und ich sind gestern Abend zurückgekommen.
Ich habe hier einen Brief für dich, der aus Versehen bei uns gelandet ist. Wie wär’s, wenn ich schnell rüberkomme, dann können wir ein bisschen erzählen?«
96
Ich stand mit Conklin im Wohnzimmer der Tylers. Es war gerade einmal fünfzehn Minuten her, dass ihre Nachbarin Miriam Devine die handgeschriebene Nachricht von den Entführern vorbeigebracht hatte.
Sie hatte den Effekt einer emotionalen Atombombe auf Elizabeth Tyler, und mir ging es ähnlich.
Ich erinnerte mich, am Tag der Entführung auch bei den Devines geklingelt zu haben. Sie wohnten gleich nebenan, in einem cremefarbenen viktorianischen Haus mit Schindelverkleidung, fast
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