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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ich: »Bittschön.«
    Da legte er die Batterien in meine Hand und hielt meine Hand, bis ich sie ihm entzog.
     
    Die Männer, die in der Werkstatt arbeiteten, wurden »Gehülfen« genannt; ich vom ersten Tag an »Mechaniker«, obwohl ich einen Abschrot nicht von einem Spitzstöckel und ein Sperrhorn nicht von einem Gesenk unterscheiden konnte, schon deshalb nicht, weil ich weder wusste, was das eine noch was das andere war. »In der Kfz-Werkstatt«, hieß es von nun an, »sind fünf Gehülfen und zwei Mechaniker beschäftigt: der Zellenvater vom Sechserhaus und ’s Rehli« – das Rehlein.
    In der Werkstatt rangierte ich also vor dem Adlatus. Seine Aufgabe war: zu tun, was ihm gesagt wurde. Sah er ein Problem, durfte er es nicht von sich aus angehen, sondern musste es dem Zellenvater vortragen; kam ihm die Idee, anstatt einer V-Naht eine X-Naht zu schweißen, hatte er dies vom Zellenvater prüfen zu lassen, ehe er die Azetylenflasche auch nur von der Seite anschaute. Ich hingegen bekam schon bald Aufgaben gestellt, zu deren Lösung mir ausdrücklich erlaubt war, eigene Entscheidungen zu treffen und auszuführen. Und den Zellenvater durfte ich – als einziger! – »Meister« nennen. Ich erzählte es dem Wärter, der mich damals aus dem Bunker geholt hatte. Er tippte mit zwei Fingern an seine Kappe, als ob ich ein Oberst wäre.
    In der Zelle aber herrschte die alte Hierarchie. An der Spitze stand der Zellenvater; nach ihm kam lange nichts, dann der Adlatus; ihm folgte Quique Jiménez – diese drei schliefen in den oberen Betten. An vierter Stelle stand der Italiano, er schlief unter dem Zellenvater. Unter dem Adlatus hatte bis zu meinem Eintritt niemand geschlafen. Dissi war der letzte; sein Bett war unter dem seines Freundes Quique Jiménez. Ich nahm in der Zelle also den zweitletzten Platz ein. Diese Reihung wurde eingehalten – bei der Essensausgabe, beim Tischtennis und Boccia während der Hofstunde nach dem Mittagessen, bei der Reservierung der Hanteln und des Expanders und bei der morgendlichen Toilettensitzung.
     
    Ich wusste nicht, was Amphetamine sind. Das hat mir der Italiano erst viel später erklärt. Und hat mir angeboten: Speed, »Schpiddi«, Pervitin. »Adolf Hitler hat das genommen und Benito Mussolini.« Der Führer habe sogar veranlasst, dass es an die Soldaten der Wehrmacht verteilt wurde, damit sie keine Angst hätten und keinen Hunger und spielend zwei Tage und zwei Nächte wach bleiben könnten. Jeden Morgen, oder besser gesagt jeden Mittag, denn Hitler sei ein Langschläfer gewesen – allein deshalb sei er ihm schon sympathisch, sagte der Italiano –, habe sich der Leibarzt des Führers auf dessen Bettkante gesetzt und ihm eine Injektion verpasst, da sei der Führer schlagartig frisch geworden. Und die GIs in Vietnam seien ebenfalls auf Pervitin, das wisse er aus erster Hand. Ich habe trotzdem nichts genommen. Wie die Pillen ins Gefängnis gelangt waren, darüber kicherte und schwieg der Italiano.
    Eines Abends kam der Adlatus nicht gemeinsam mit dem Zellenvater, sondern früher und zusammen mit dem Italiano, und er war in einem Zustand, wie ich ihn bis dahin nicht erlebt hatte. Auch der Italiano war aufgekratzt und albern und tanzte in seiner Animateurnummer an den Betten entlang, sang Rock ’n’ Roll, die Hand vor dem Mund, als hielte er ein Mikrophon zwischen den Fingern, ixte die Beine und wackelte mit dem Hintern; er erzählte einen Witz nach dem anderen, plapperte vor sich in die Luft hinein. Der Adlatus aber war außer sich, nie fand ich diesen Ausdruck treffender; seine Bewegungen waren zackig, plötzlich und heftig. Wenn er nach dem Tee griff, schnellte seine Hand über das Ziel hinaus und fegte den Becher vom Tisch. Dabei versuchte er, sich zusammenzunehmen. Er knetete die Lippen, als bete er, raufte die Hände, ballte die Fäuste, warf den Kopf zurück und stieß seine hohen langen Töne aus. Quique Jiménez und Dissi verzogen sich gleich nach dem Abendessen ins Bett. Quique deutete mir an, ich solle tun wie sie, er verdrehte die Augen und faltete die Hände, als bitte er mich im Namen der Heiligen Jungfrau von Guadalupe inständig, auf ihn zu hören. Ich kannte mich nicht aus. Ich suchte den Blick vom Zellenvater. Der aber hatte viel zu tun, er pfiff leise durch die Zähne, legte seine Ersatzhose neu zusammen, ebenso das Ersatzhemd, als gälte es den Koffer zu packen für eine Weltreise. Er gab sich bedächtig und geistesabwesend und sagte schließlich, ohne den Italiano,

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