Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
zitterte am Ende jedes Wortes. »Wer sagt es uns? Es sagt uns ja niemand. Und wenn man es endlich weiß, ist es vielleicht schon zu spät. Ich denke, du bist dieser Mensch für mich, Andres. Und nun bleibt mir nur so wenig Zeit.«
Einen Monat nach dem ersten Zusammenbruch folgte der zweite – am 1. August 1968. Er war schwerer. Ich war seit 494 Tagen in der Schweiz; die Zeit der Untersuchungshaft mitgerechnet, seit insgesamt 930 Tagen im Gefängnis. Die Eidgenossen feierten an diesem Tag die Gründung ihres Bundes, und in unserer Vollzugsanstalt wurde ein offenes Abendessen veranstaltet, spendiert von swiss morning , einer Textilfirma aus Zürich. Im großen Besucherhof waren Tische und Bänke aufgestellt, es gab ein Menü aus vier Gängen: eine dicke blonde Suppe, Salat mit geröstetem Weißbrot, Pariserschnitzel (auf Kägi-fretti -Größe zurechtgeschnitten, damit wir sie mit unserem Weichblech-Kinderbesteck essen konnten), dazu Pommes frites und Blumenkohlgemüse und als Nachtisch ein Schlag Schokopudding mit einem Schlag Vanillesoße; zum Trinken Tee oder Himbeersaft; außerdem für jeden zwei ovale filterlose Zigaretten. Um uns vierhundert Männer herum standen achtzig Wachbeamte, keiner von ihnen unbewaffnet. Nach dem Essen hielten der Direktor und der Gefängnispfarrer je eine kurze Ansprache. Beim Absingen der Schweizer Hymne fiel der Zellenvater vornüber. Er wurde in bewusstlosem Zustand in die Krankenstation gebracht und blieb dort fast einen Monat. Er hatte sich beim Sturz das Schultergelenk ausgerenkt und das Schlüsselbein gebrochen. Man stellte einen Gehirntumor bei ihm fest.
In der Nacht kam es zum Kampf zwischen Quique Jiménez und dem Adlatus. Der Grund war ich. Der Spanier schlug dem Adlatus eine blaue Schulter, der Adlatus würgte ihn dafür fast zu Tode. Einmal ging die Klappe in der Tür auf, und ich sah die Brillengläser eines Wärters blitzen. Die Klappe wurde geschlossen, nichts geschah, und der Kampf ging weiter. Irgendwann saßen Quique Jiménez und der Adlatus in verschiedenen Ecken am Boden, atmeten schwer und tranken Wasser. Dissi räumte die Zelle auf, betete dabei laut auf den Fußboden nieder. Ich legte mich ins Bett vom Zellenvater.
Das Bett stand Kopf an Kopf zu dem von Quique Jiménez. Er hatte die Hantel neben sich liegen, den Kampf um sie hatte er gewonnen. Der Adlatus brüllte, Dissi betete – Padre nuestro, que estás en el cielo, santificado sea tu Nombre, venga a nosotros tu reino, hágase tu voluntad en la tierra como en el cielo … Ich flüsterte zu Quique hinüber, ich wisse mit neunzigprozentiger Sicherheit, dass der Adlatus ein Tier und ein Teufel sei, und erzählte ihm die Geschichte von Jesus und den zweitausend Schweinen. Er antwortete, ihm genüge, wenn er ein Mensch sei. In Abständen von Viertelstunden brüllte der Adlatus und brüllte die Nacht hindurch. Am Morgen war er prächtig gelaunt. Er schmierte mir Margarine aufs Brot und zeigte einem nach dem anderen seine faulen Zähne, was bei ihm Lächeln war. Ich sah den Mann, ich sah das Schwein, ich sah den Teufel.
Es wurde uns mitgeteilt, dass der Italiano im Bunker versucht habe, sich mit einem Bein seiner Hose zu strangulieren, und dass er in die Krankenstation verlegt worden sei. Quique und ich glaubten das nicht. Wir meinten, er habe geblufft. »Wie soll das gehen, bitte!«, sagte er. »Und wie könnte es gehen?«, fragte ich. »Nichts essen?« »Ho, sie holen dich raus und legen dir einen Schlauch in den Magen«, sagte er. »Ich würde aufspringen und so schnell ich kann mit den Kopf gegen die Mauer rennen.« »Die Mauer ist höchstens zwei Meter von dir entfernt«, sagte ich. »Ich war dort, ich weiß es. Du kriegst nicht genügend Geschwindigkeit, du kriegst nur Kopfweh. Und wenn man die Luft anhält?« Wir probierten es. Ich war besser. Aber funktionieren würde es nicht, darüber waren wir uns einig. In der Krankenstation, hieß es, sei es schön wie draußen.
In der Nacht schlugen sich die beiden wieder, und in den folgenden Nächten war es nicht anders. Quique Jiménez hatte eine gebrochene Nase davon und Blutergüsse an Rücken, Brust und Armen; das linke Auge des Adlatus war zu einem blauschwarzen Vulkan aufgequollen, eine Lippe war eingerissen, und er hatte sich auf die Zunge gebissen und lispelte. In manchen ihrer gegenseitigen Blicke war Einverständnis, und ich dachte, sie kämpften gern.
Dissi erwartete von mir, dass ich den Kampf beendete, und er betete in der Nacht dafür. Er
Weitere Kostenlose Bücher