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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Bunker gesperrt würde.
     
    Von nun an ließ er nicht ab von mir. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab – und mit Hilfe eines gewissen Wärters ergaben sich Gelegenheiten –, drückte er mich gegen eine Wand, sagte »mies Rehli«, fuhr mit seiner Zunge über mein Gesicht, packte mein Gelenk und rieb meine Hand an seiner Hose. Einmal würgte er mich, wie er mich in der Nacht gewürgt hatte, als der Italiano mit aufgeschnittenen Pulsadern am Boden gekauert war, drückte mich gegen die Wand und masturbierte mit der linken Hand, was ihm nicht leichtfalle, wie er sagte, und es deshalb »siachr« länger dauern würde als mit der rechten. Wenn ich nicht wegschaute, werde er mir eine Schachtel Mary Long schenken.
    Ich wünschte mir, dass der Italiano bald zurückkehrte. Aber seine Strafe wurde verlängert, weil er einem Wärter ins Gesicht gespuckt hatte.
    An den Abenden fragte ich den Zellenvater, ob ich nach Lichtaus zu ihm in sein Bett kommen dürfe. Und er antwortete jedes Mal: »Wir müssen ein bisschen lernen, wir zwei, du hast recht.« Wenn ich bei ihm lag, mimte er einen besonders strengen Tonfall, sprach laut genug, so dass ihn jeder verstehen und sich von der Harmlosigkeit unseres Gesprächs überzeugen konnte.
    »Ob die Kupplung o.k. ist, prüft man?«
    »Indem man die Handbremse zieht, den Motor startet, einkuppelt, den vierten Gang einlegt, auskuppelt und Gas gibt.«
    »Stirbt der Motor ab?«
    »Ist die Kupplung o.k.«
    »Heult der Motor auf?«
    »Sind wahrscheinlich die Kupplungsscheiben dahin.«
    »Maßnahmen?«
    »Getriebe vom Motorblock lösen und ausbauen. Kupplungsscheiben auswechseln und Kupplungsdruckplatte prüfen. Getriebe einbauen.«
    »Aufwand?«
    »Zirka drei Stunden.«
    Währenddessen nahm er mich in seine mächtigen Arme, drückte sanft meinen Kopf gegen seine Brust und streichelte mir über den Hinterkopf. Er tat das mit solcher Zartheit, roch dabei angenehm nach Rasierwasser, dass sich jeder andere Mensch an meiner Stelle sehr wohl gefühlt hätte, wer weiß, sogar glücklich gewesen wäre. Ich war es nicht. Trotzdem bedankte ich mich bei ihm für das Glück. Ob ich mich tatsächlich für das Glück bedanke, fragte er flüsternd in mein Ohr hinein. Ja, flüsterte ich zurück. Niemand bedanke sich für das Glück, nur sein Andres. Ob ich die Geschichte kenne, als er einmal ein Leben gerettet habe. Das Leben vom Adlatus, sagte ich, jeder kenne die Geschichte. Sie sei wahr, sagte er. Jeder wisse, dass sie wahr sei, sagte ich. Ich solle zuschauen, dass ich auch einem Menschen das Leben rettete, sagte er. »Leben gegen Leben. So ist das. So und nicht anders. Lass dir nichts anderes einreden. Leben ist Bewegung. Wer sich nicht bewegt, existiert nicht. Wenn man stillsteht, lebt man nicht, sondern denkt höchstens, man lebt. Aber wenn man sich bewegt, braucht man Platz, und dann ist oft ein anderer im Weg.«
    Und sagte laut: »Aus dem Auspuff steigt beim Gasgeben blauer Rauch. Ursache?«
    »Durch eine undichte Stelle gelangt Öl in den Verbrennungsraum.«
    »Maßnahme?«
    »Zylinderkopf ausbauen und prüfen, warum Öl in die Verbrennungsräume gelangt.«
    »Welche Möglichkeiten?«
    Über meine Antworten hinweg flüsterte er mir wieder ins Ohr. Dass ich sein Liebling sei. Dass es niemand wagen solle, mich anzugreifen. Dass wir beide die einzigen hier seien, die an den lieben Gott glaubten. Dass er noch eine gute Tat tun müsse, danach sei er mit dem lieben Gott quitt, und der liebe Gott würde ihm verzeihen. »Jedes Leben ist für sich das erste und zugleich das letzte Leben. Lern das auswendig!«, flüsterte er. »Jedes Leben ist für sich das erste und zugleich das letzte Leben«, flüsterte ich zurück, und laut sagte ich: »Kolbenringe zu reparieren hat keinen Sinn, man muss sie ersetzen, und die neuen muss man genau prüfen, denn oft werden einem gebrauchte untergejubelt.«
    Ich hatte am Anfang geglaubt, ich sei in dieser Gesellschaft im Vorteil, weil ich über ein großes Talent verfügte: nämlich über die Menschenkenntnis eines Mannes, der selbst mit wenigen Gefühlen ausgestattet ist und deshalb nicht leicht in Situationen manövriert werden kann, in denen er von denselben beherrscht und betrogen wird. Ich hatte mich bei meinem Einstand getäuscht: Nicht der Zellenvater reagierte wie der Kluge Hans, sondern der Adlatus. Alle hatten vor irgendetwas Angst, der Italiano, Dissi, Quique Jiménez, besonders der Zellenvater; alle konnten sich über irgendetwas freuen – der Italiano über

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