Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
und wir wissen nicht was; wir holen Luft, um etwas zu sagen, und sagen etwas anderes, als wir sagen wollten – vielleicht etwas, das die Zuhörer erschüttert und bezaubert in einem, so dass sie in sich blicken und den Kopf schütteln und einander zuraunen, so hätten sie die Sache noch nicht betrachtet. Und schon ist aus uns etwas geworden. Der Verkünder einer guten Hoffnung zum Beispiel – und dabei haben wir doch nur ein Märchen erzählt … – Auch davon wird in diesem Kapitel berichtet.
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Auch Rudi Jungwirth hatte eine Brille, eine wie John Lennon, aber in seiner war Fensterglas, und er trug sie nur in der Freizeit – an den Sonntagen zum Beispiel, nachdem er am Morgen am Altar der Alserkirche in der Josefstadt die Messe gelesen und von der Kanzel gepredigt hatte; da zog er sein Priestergewand aus und die Bluejeans an, strubbelte sich die Haare auf, und wir fuhren zusammen mit seiner Freundin in deren gelbem R4 in die Wachau oder ins Weinviertel oder zum Neusiedlersee hinunter oder einfach ohne Plan über die Landstraßen. Hemma hatte hüftlanges blondes Haar, in das sie Zöpfchen und bunte Wollfäden flocht und mit Perlen beschwerte, damit sie es weit schwingen konnte; sie war groß und dünn, hatte kaum Busen und einen schönen Hintern, um den sie sich immer ein wenig sorgte. Sie studierte Politologie und Germanistik und schrieb an einer Hausarbeit über den österreichischen Bürgerkrieg 1934 , hatte aber ihre Zweifel, ob solche Rückschau nicht »von den Problemen der Gegenwart« ablenke, weswegen sie nicht recht vorankam. Wer ich gewesen war, wusste sie nicht. Rudi konnte phantastisch lügen; aus dem Nichts heraus hatte er eine Geschichte in die Luft gestellt – wie er und ich uns zum ersten Mal begegnet seien, und zwar auf einem Seminar in Krems, wo ich über meine Sozialarbeitertätigkeit in einem Gefängnis in der Schweiz referiert hätte, sogar Details aus meinem »Vortrag« zitierte er vor ihr.
Als Hemma nach unserem Picknick auf der Decke im Gras unter einem Baum eingeschlafen war, fragte ich Rudi, ob es für einen katholischen Priester inzwischen erlaubt sei, eine Freundin zu haben. (Es hätte mich gewundert, wenn nichts davon im Radio berichtet worden wäre.) Noch nicht, gab er zur Antwort, aber es werde nicht mehr lange dauern, es gebe Signale aus Rom. Nach der arg rigiden Enzyklika Sacerdotalis Caelibatus von 1967 , in der es heiße, den priesterlichen Zölibat hüte »die Kirche wie einen strahlenden Edelstein in ihrer Krone«, habe Papst Paul VI. kalte Füße bekommen und sei nun zu einem Kompromiss bereit, nicht gleich Ehe, aber eine Art gesegnetem Beisammensein, eine Art Ehe-Limbus. Ihm persönlich sei das völlig »powidl«, bekannte er vor mir, er stehe mit Gott im Dialog, und Gott habe ihm auf die Frage, ob er dürfe, geantwortet, er solle nicht bei Paul VI., sondern bei Paulus 1 Korinther 13,13, nachlesen, dort stehe klipp und klar: Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen – also auch größer als der Glaube an die katholische Kirche und an die Enzykliken ihrer Päpste. Er liebe Hemma, und Hemma liebe ihn, und damit sei für sie beide das Problem keines mehr.
Wir drei sahen aus wie Rockstars oder wie bolivianische Revolutionäre.
Im Oktober, als das neue Semester an der Universität begann, trat ich eine Stelle als Hausmeister in dem Studentenwohnheim zum Heiligen Fidelis an, das zum Erzbischöflichen Priesterseminar in der Boltzmanngasse im 9. Wiener Gemeindebezirk gehörte und Quartier auf zwei Stockwerken eines Jugendstilhauses bezog. Es war so heruntergekommen, dass der Witz ging, es werde von Engeln zusammengehalten. Rudi hatte mir diesen Posten verschafft. Für mich habe der Unfalltod meiner Eltern gesprochen, sagte er, und wir grinsten uns einen, weil ja wir zwei uns diese Tragödie ausgedacht hatten, um nachvollziehbare Verwandte aus meiner Biographie zu tilgen. Vor dem Sekretär des Erzbischofs habe er mich zudem als einen »auf gewisse Art Erleuchteten« beschrieben. Der Sekretär des Erzbischofs stecke schon seit etlichen Jahren in einer Glaubenskrise, er lechze nach Transzendenz. Ich müsse gefasst sein, eines Tages von ihm zum Nachmittagstee eingeladen zu werden.
Pfarrer Rudolf Jungwirth war fürwahr ein vorbildlicher Lügner, und dazu ein hoch reflektierter! Gott habe ihm zugestanden, selbst zu entscheiden, was Lüge und was Strategie auf dem Weg hin zum Guten in der Welt sei. Wenn er seine
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