Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Melancholie rührt mich nicht, ihre Angst verwandelt mich nicht in ihren Ritter, ihre Erregung lässt mich nicht in Verlegenheit geraten.
Als wir in Richtung Burgtheater gehen, hakt sie sich bei mir unter und fragt, was ich am Abend vorhätte. Ob ich die Musik liebte. Ich weiß, dass sie nicht viel von Musik hält. Sie will, dass ich sie besuche. Sie besitze eine bezaubernde Aufnahme von Leonard Bernstein, mitgeschnitten bei den Salzburger Festspielen in diesem Sommer, er dirigiere die achte Symphonie von Gustav Mahler mit den Wiener Philharmonikern. Ein Freund, mit dem zusammen sie die Aufführung gesehen habe, habe ihr das Band besorgt. Wenn ich wolle, spiele sie es mir vor, auf Platte sei das Konzert noch nicht zu haben. Außerdem habe sie einen sehr guten Wein. Und sie sei eine passable Köchin, wenn sie sich anstrenge. Sie werde eine Kleinigkeit herrichten.
Ich verspreche zu kommen. »Nichts liebe ich mehr als Musik und einen guten Wein und ein gutes Essen«, sage ich.
»Hast du eine Lieblingsspeise?«, fragt sie.
»Kartoffelsuppe mit einem Schuss Essig und Majoran.«
Ich drehe mich um und gehe davon.
Sie bleibt vor dem Burgtheater stehen und schaut mir nach, wie ich die Ringstraße überquere und im Schnellschritt in Richtung Rathaus davoneile. Als hätte ich mich verspätet. Sie winkt mir nach. Zweimal drehe ich mich nach ihr um. Zweimal winkt sie mir nach.
So habe ich meine Moma zum letzten Mal gesehen. Ich habe sie am Abend nicht besucht.
Stattdessen habe ich Hemma besucht. Es war ein Donnerstag. Rudi hatte seinen Termin im Gefängnis. Hemma war die erste Frau, mit der ich Sex hatte.
4
Rudi hatte nichts dagegen, dass ich mit seiner Freundin schlief. Er schlug vor, dass wir es zu dritt machten. Das wollte aber Hemma nicht. Zu viert schon, zu dritt nicht. Wenn eine zweite Frau dabei wäre, würde sie es gern tun. Sie allein mit zwei Männern, das wollte sie nicht.
Die Terroristen, die das Bürogebäude der OPEC gegenüber der Universität gestürmt und besetzt hatten, waren tatsächlich vom Hotel Sacher mit leckeren Speisen versorgt worden. Und waren zusätzlich von einem Dealer mit Amphetaminen versorgt worden, damit sie wach blieben. In der Straßenbahn waren sie von ihrem Hotel zum Schottentor gefahren, jeder von ihnen einen Sportsack über dem Rücken voll mit Waffen und Sprengstoff, die Wachen vor dem OPEC-Büro hatten sie freundlich eingelassen, und sie hatten sich in den ersten Stock begeben, wo elf Minister, hauptsächlich aus arabischen Staaten, und fast fünfzig OPEC-Vertreter über eine Erhöhung des Erdölpreises diskutierten. Nach zehn Stunden, drei Toten und zwei Schwerverletzten merkten die Terroristen, dass natürliche Begabung nicht ausreichte, um wach zu bleiben. Sie wussten ja nicht, wie lange die Verhandlungen mit den österreichischen Regierungsbehörden dauern würden. Einer von ihnen, ein Deutscher, hatte Verbindungen zu einem ortsansässigen Dealer und telefonierte. Aber der Dealer brachte das Gift nicht selbst vorbei, davor hatte er zu viel Schiss; er schickte seine Schwester. Die wusste von allem nichts, sie las keine Zeitungen, sie hörte kein Radio, und wenn im Fernsehen Nachrichten gesendet wurden, schaltete sie weiter. Ihr Bruder drückte ihr ein Paket in die Hand und instruierte sie. Zu den Beamten vor dem Gebäude solle sie sagen, sie habe eine Lieferung für den Herrn Carlos. Der Beamte werde sie zu Herrn Anis Al-Nakasch, dem Sekretär von dem Herrn Carlos, führen. Der werde das Päckchen entgegennehmen, und sie könne gehen. Das sei alles. Sollte sie wider Erwarten jemand fragen, woher das Päckchen stamme und was es beinhalte, solle sie sagen, sie wisse es nicht, jemand habe sie wenige Minuten zuvor auf der Straße angesprochen und ihr tausend Schilling dafür gegeben, dass sie das Päckchen abliefere. Der Bruder gab ihr einen Tausender, damit sie ihn vorzeigen könne. Den müsse sie ihm allerdings zurückgeben. Als Lohn würde sie fünf Gramm besonders gutes Heroin bekommen, versprach er ihr. Sie hieß Lore Hartmann und war ein bisschen mit Hemma befreundet. Nach dieser Geschichte traute sie sich nicht mehr auf die Straße. Sie war stundenlang von der Polizei verhört worden. Ihr war aufgetragen worden, sich in Bereitschaft zu halten. Hemma sagte, man müsse sich um sie kümmern. Sex beruhigt und hilft, nervöse Depressionen abzubauen. Sie schlug Lore als vierte vor. Rudi war einverstanden. Ich auch.
Den Jahreswechsel 1975/76 verbrachten wir
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