Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
entschuldigte sich und kaufte mir vier Tabletten Pervitin ab. Eine fünfte gab ich ihm umsonst.
In derselben Nacht fand ich Cookie fix und fertig in seiner Küche vor. Er zitterte, das Schwarze in seinen Augen war wie ein Stecknadelkopf so klein. Ich glaubte, er habe eine Überdosis gezogen. Er rauchte zwei Bidis gleichzeitig und fragte mich, ob ich an Gott glaubte. Er glaube nämlich ab heute an ihn, ab heute 23 Uhr 37 glaube er an Gott. Wir hätten eine unbeschreibliche Sau gehabt, wir beide, erklärte er mir und drückte mich an seine stinkende Brust, oder aber Gott habe die Hand über uns gehalten. Er glaube letzteres, seit heute 23 Uhr 37 glaube er, Gott halte die Hand über uns beide. Er habe Gustel (einen befreundeten Dealer) getroffen. Zwei seiner Fixer seien heute Nachmittag an seinem Stoff krepiert und eine Fixerin liege im Koma. Und warum? Überdosis. Weil der Stoff zu rein gewesen sei. Und Gustels Stoff sei weniger rein als unserer! Inzwischen enthalte ein Schuss maximal zehn Prozent Heroin, das sei Gülle. Die Zeiten hätten sich in kürzester Zeit um das Doppelte verschlechtert, die Moral sei um die Hälfte eingebrochen. Ich solle ihm auf der Stelle alles Heroin zurückgeben, er müsse es behandeln. Sein Gewissen befehle ihm, den Stoff um das Doppelte zu strecken. Der Preis pro Gramm bleibe natürlich der gleiche. Er habe schließlich Lores Entzug zu finanzieren. Er habe sie nach Kalksburg gebracht, persönlich, so etwas müsse professionell durchgezogen werden, er könne das nicht, er sei zu sensibel, um zuzusehen, wie seine Schwester auf dem Affen reite. Sie habe angefangen, sich in die Halsschlagader zu fixen, weil die Venen an ihren Armen inzwischen alle verholzt seien und die Wirkung auf dem Weg von Hals zu Hirn nicht so krass abnehme wie von Arm zu Hirn. Ohne ihn hätte sie den Herbst nicht überlebt. Er habe immer dafür gesorgt, dass sie den besten Stoff bekomme. Reines Heroin, das sei nachgewiesen, schade keinem Organ. Aber reines Heroin sei nicht zu bekommen. Außerdem wisse heute kein Mensch mehr, wie reines Heroin zu dosieren sei, nicht einmal die Ärzte. Er besuche sie regelmäßig. Ob er ihr schöne Grüße von mir ausrichten solle.
»Das wird ihrer Genesung nicht förderlich sein«, sagte ich.
»Da könntest du recht haben«, sagte er.
Ich dürfe aber um Gottes willen nicht herumerzählen, dass er ab heute 23 Uhr 37 an Gott glaube. Das würde wiederum dem Geschäft nicht förderlich sein.
»Ich werde es nicht herumerzählen«, sagte ich.
In meinem Zimmer im Heim nahm ich das Rohr, in dem ich meinen Pass und meine Papiere versteckt hatte und wo ich nun auch mein Geld aufbewahrte, unter dem Waschbecken hervor, setzte mich mit einer Tasse Tee ins Bett und glättete und zählte die Scheine. Ich hatte nichts von dem Drogengeld ausgegeben. Ich besaß hundertvierundsechzigtausend Schilling. Ich schob das Geld in das Rohr zurück. Am nächsten Tag lötete ich es mit Blechscheiben zu und vergrub es im Augarten in der Nähe des Flakturms. Die Stelle bezeichnete ich genau in meinem Heft, verwendete dafür aber Umschreibungen, mit denen ein Unbefugter nichts würde anfangen können.
Ich beschloss, mit der Dealerei aufzuhören. Vor drei Jahren und fünf Monaten war ich aus dem Gefängnis entlassen worden. Birken färben ihr Laub im Herbst auf eigentümliche Weise. Zwischen frühlingshaft grünen tauchen von einem Tag auf den anderen gelbe Blätter auf, manche so hell, dass sie vor dem Hintergrund des Abends weiß erscheinen. Stamm und Äste präsentieren ihr Schwarzweiß in schärferem Kontrast als zu den anderen Jahreszeiten. Die Blätter fallen, die feinen Zweige werden sichtbar, dadurch wirkt der Baum zarter, zugleich wegen der Verästelung widerstandsfähiger selbst als die Eiche, die rasch zu altern scheint, weil sie sich der welken und dürren Blätter nicht entledigt, sondern sie wie Schuppen runzeliger Haut über den Winter behält. Auf die herbstliche Pracht der Birke hatte ich mich während dieses Sommers gefreut und auch während des Sommers davor. Auf dem Heimweg vom Augarten dachte ich ans Gefängnis, an meine tägliche halbe Stunde, die ich hinter dem Fünfertrakt verbringen durfte. Dort war neben der Gefängnismauer eine Birke gewachsen. Sie war jung gewesen, und ich hatte gedacht, welche Verfärbungen würde sie wohl als ausgewachsener Baum vorzuzeigen haben, und wie würde der Teppich aus Gold und Gelb um sie herum aussehen, wenn sie alle ihre Blätter abgeworfen hätte.
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