Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Und hinter der Mauer, drüben in der Freiheit, war eine Pappel gewachsen, und einmal, es war Anfang November gewesen, saß ich im Nebel, an die Wand des Fünfertrakts gelehnt, aber der Nebel war erst dünn und lag tief, die Krone der Pappel ragte über ihn hinaus und wurde von der untergehenden Sonne beschienen und schimmerte golden durch den sich verdichtenden Schleier. Ich wusste, ich würde diesen Augenblick nie vergessen. Vor meinem Fenster im Heim stand eine ausgewachsene Birke, und nun war ich drüben in der Freiheit und hätte sie betrachten dürfen, solange ich wollte, nicht nur eine halbe Stunde am Tag, aber ich habe es verabsäumt; ich habe es verabsäumt, ihr zuzusehen, wie sie sich in den Winter wandelte, nicht in diesem Herbst hatte ich ihr zugesehen und nicht im vorangegangenen. Das warf ich mir vor. Was, dachte ich, wenn ich vor dem nächsten Herbst sterbe?
     

6
     
    Apropos Gott.
    Ernst Koch – so hieß jener Student und angehende Jesuit, der ein berühmter Moraltheologe werden wollte (nicht, dass ich mit ihm den engsten Kontakt im Heim gehabt hätte; ich erzähle von ihm und setze seinen Namen kursiv, weil er über eine längere Zeit meines Lebens von Bedeutung für mich sein würde) – zitierte C.G. Jung. In einem Radiointerview soll dieser gesagt haben, er habe es nicht nötig, an Gott zu glauben , er wisse es. Das gefiel mir. Ich sagte: »Mir geht es genauso. Ich glaube nicht, aber ich weiß, dass es ihn gibt.«
    Die Theologen verstanden mich falsch: Sie meinten, ich hätte C.G. Jung falsch verstanden.
    Wir saßen in der unteren Küche des Heims. Einer hatte ein Erdäpfelgulasch gekocht, sehr lecker, halb Frankfurter, halb gut gewürzte Schweinswürste, Zwiebeln, speckige Kipflerkartoffeln, alles scharf angebraten und mit Suppe und einem Schuss Essig abgelöscht, ordentlich süßes und scharfes Paprikapulver dazu und Pfeffer, Salz und Lorbeerblätter, das Ganze zwanzig Minuten bei kleiner Flamme gekocht, am Schluss Kümmel darübergestreut – ein Rezept seiner Mutter, einen hohen Kompanietopf voll, ich habe drei Teller gegessen. Dazu haben wir Weizenbier der Marke Schneider Weisse getrunken, drei Kästen hatte der Sekretär des Erzbischofs, ein Bayer aus Passau, spendiert. Es war der 20. Mai 1978 , Joel Spazierers Geburtstag, er wurde neunundzwanzig Jahre alt.
    Ich habe zwei Bücher geschenkt bekommen – Die offenen Adern Lateinamerikas von Eduardo Galeano und den Sonnengesang des heiligen Franz von Assisi, einen schmalen Band mit Holzschnitten; außerdem eine Krawatte, eine Teetasse mit meinem aufgemalten Namen, eine Mundharmonika, Hauspatschen aus Filz, von der Mutter jenes Studenten genäht, der für mich das Gulasch gekocht hatte, mit einem Brief, in dem sie sich bei mir für den guten Einfluss bedankte, den ich auf ihren Sohn ausübte; weiters zwei Flaschen Wein und eine Flasche Bauernschnaps. Ernst Koch schenkte mir ein Medaillon zum Aufklappen, in dem sich eine Miniatur vom heiligen Antonius von Padua befand (dem einzigen Heiligen, wie er mir später gestand, der je auf seine Bitten reagiert habe, allerdings auf jede seiner Bitten und prompt , weswegen er ihm fast ein wenig unheimlich sei, denn schließlich heiße es ja von Satan, er erhöre jeden ernst gemeinten Ruf, und zwar sofort).
    Mein Kommentar zu C.G. Jung löste eine heftige Diskussion aus. Es könne nicht sein, dass der Mensch etwas wisse, es aber nicht glaube, hieß es. Wenn man etwas wisse, bedeute das im Letzten, dass es bewiesen sei – was dann der Glaube noch für eine Rolle spiele. Worauf ich antwortete: Wer so spreche, demonstriere nur, wie wenig Kraft er dem Glauben zubillige; wenn jemand die Kraft habe, etwas zu glauben, was er nicht wisse , müsse er auch die Kraft haben, etwas nicht zu glauben, was er wisse .
    »Willst du uns ein Beispiel nennen?«, fragte einer.
    Ich tat, als würde ich nachdenken, und nickte und sagte dann: »Das will ich. Jeder von uns, die wir hier sitzen, weiß , dass unser Universum vor etwa zwölf Milliarden Jahren im Urknall – oder wie ihr es nennt: im Schöpfungsakt – entstanden ist. Alles, was es gibt – dieser Tisch, diese Sessel, die Häuser der Stadt, die Planeten, die Sonne, die hundert Milliarden Milchstraßen, jede angefüllt mit hundert Milliarden Sternen und einem schwarzen Loch in der Mitte, das wiederum eine Masse von Millionen bis Milliarden Sternen festhält – dies alles war beim Urknall zusammengepresst zu einem Kügelchen von einem Quadrilliardstel Millimeter

Weitere Kostenlose Bücher