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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Durchmesser, das ist eine Eins mit dreißig Nullen unter dem Bruchstrich. Das weiß ich. Aber ich glaube es nicht.« Und mit einer Prise Verzweiflung in der Stimme konkretisierte ich: »Ich kann es nicht glauben!« Und zu guter Letzt zitierte ich Meister Eckhart, tat aber so, als wäre es von mir: »Unter der Erde versteht man die Finsternis, unter dem Himmel das Licht.«
    Sie waren erschüttert. Vier Streichhölzer wurden gleichzeitig angerissen, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte.
    Damit war Ernst Koch und seinem C.G. Jung die Show gestohlen. Das Gegenteil hatte ich beabsichtigt. Er litt darunter, dass ihm zu wenig Anerkennung zuteilwurde. Er glaubte, dass eine große Zukunft als Moraltheologe für ihn möglich wäre, wenn er es nur geschickt anstellte, und fürchtete, er könne sich diese Zukunft durch Ungeschicklichkeit in der Selbstvermarktung vermasseln. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie die Selbstvermarktung eines Theologen aussehen könnte, und auch nur ein diffuses Bild davon, was man sich unter einem berühmten Moraltheologen vorstellen dürfe, war aber voll Ehrgeiz und bereit, im Dienst seiner Karriere Methoden anzuwenden, die von seiner eigenen Disziplin mit himmlischem Donner verurteilt würden. Nur: Er kannte keine solchen Methoden. Und weil er – wenigstens – ahnte, dass ich »mit anderen Wassern gewaschen« sei (er hatte mich einmal auf den Kopf zu gefragt, ob dieser Ausdruck auf mich zuträfe, und ich hatte ihn gerade angesehen und gesagt: »Ja.«), schloss er sich mir an und fragte mich um Rat bei den diversen Intrigen, die, wie er sich einbildete, gegen ihn gesponnen würden oder die er selbst spinnen wollte. Sein Gegner war der zweite Anwärter auf den Eintritt in den Jesuitenorden, der Dogmatiker – ich nenne ihn so, weil ich seinen Namen vergessen habe. Wobei ich sagen müsste: sein virtueller Gegner. Dieser Ausdruck wurde damals noch nicht verwendet, er trifft die Beschreibung dieses Kampfes aber genau. Ernst Koch hatte eine Neigung zum Monologisieren. Wenn er mich in meinem Zimmer besuchte, ging er die vier Meter auf und ab, defilierte zwischen meinem Bett und dem Waschbecken vorbei und redete vor sich hin. Monologisieren ist nicht richtig: Er führte einen Dialog, ein Streitgespräch zwischen ihm selbst und dem Dogmatiker, und es war faszinierend zuzuhören, weil nämlich nicht festgelegt war, wer diesen Streit gewinnen würde; seine Redekunst ließ keinen Bluff zu, sie war eine echte Kunst, und sie zwang ihn, fair zu sein; wenn der Dogmatiker am Wort war, strengte er sich nicht weniger an, als wenn er selbst dagegenhielt. Der Mann hat sich auf diese Dialoge vorbereitet! Er hat Argumente gesammelt für die Rede des einen und für die Rede des anderen; er war außer sich, wenn er eine elegante Wendung für den Dogmatiker fand, und hat, anstatt sie einfach zu ignorieren, in blinder Wut die Bibel blutig geblättert, um darin einen Hammer zu entdecken, mit dem er die – fiktive! – Rhetorik seinen Gegners ein für alle Mal vernichten könnte. Ich habe bei diesen Gelegenheiten eine Menge komischer Sachen gelernt, zum Beispiel, dass sich im Mittelalter die klügsten Köpfe fast tausend Jahre lang darüber gestritten haben, ob die Idee eines Dinges – eines Tisches, eines Sessels, der Häuser der Stadt, aber auch die Idee der Liebe oder die Idee der göttlichen Dreifaltigkeit – ebenso tatsächlich, also mit Händen greifbar und abwägbar, unabhängig vom Menschen existiere wie das reale Ding selbst (wenn es denn real war) oder ob es sich bei der Idee bloß um den Namen dieses Dings handle, den man weder angreifen noch auf eine Waage legen könne und den es ohne den Menschen, der ihn ausgedacht habe, nicht gebe. Die eine Schule nenne man die »Realisten«, die andere die »Nominalisten«. Ernst Koch war Nominalist, er meinte, sein Zorn zum Beispiel liege nicht irgendwo im metaphysischen Raum als tatsächlicher Gegenstand herum; der Dogmatiker dagegen war Realist, für ihn waren die Ideen wirklicher sogar als die wirklichen Dinge. In einer großartigen – fiktiven – Wechselrede führte mich Ernst Koch in den scholastischen Universalienstreit ein.
    In der realen Konfrontation mit dem Dogmatiker verkrampfte er sich, verhaspelte sich und war voll Hass, den man ihm obendrein im Gesicht ansah. Ich tröstete ihn, indem ich ihm versicherte, der Dogmatiker könne ihn genauso wenig leiden wie er den Dogmatiker. Aber es war kein ausreichender Trost, denn auch hier

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