Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
können. Was soll’s! Letztendlich sind sie beide gescheitert. Warum? Weil sie Skrupel hatten. Hitler war einer der skrupulösesten Menschen der Menschheitsgeschichte. Warum? Wenn man keine Idee hat, ist es leicht, keine Skrupel zu haben. Mit der Idee kommen die Skrupel. Je größer die Idee, desto größer die Skrupel. Und Hitler hatte die größte aller Ideen. Er wollte die Reinheit der Haut, weltweit. Das ist eine Idee, so groß eben wie die Welt. Da kann auf einzelne Kontinente keine Rücksicht genommen werden. Genauso groß waren seine Skrupel.«
»Hitler war rauschgiftsüchtig«, sagte ich.
»Jesus Christus auch.«
»Das wusste ich nicht.«
»Er hatte jedenfalls Einstiche an Händen und Füßen.«
»Hör dir nicht seinen Unsinn an«, sagte Vera, streichelte über Mäckis Stehfrisur und stimmte in sein Gelächter ein. »Such dir ein anderes Café, Joe, wo keine einsamen Psychopathen herumsitzen, sondern schöne Mädchen.«
»Du unterschätzt ihn«, sagte Mäcki.
»Unterschätze ich dich?«, fragte sie.
»Weiß nicht«, antwortete ich.
Mäcki bewies sein gutes Herz, indem er die Fliegen befreite, bevor wir nach Hause gingen. Sie stoben auseinander, und ihre Nachfahren kamen in der folgenden Nacht, und auch sie ließen sich von ihm fangen.
Irgendwann im Frühling – bei Föhn schob Vera die Fenster nach oben, und die laue Luft zog herein, und ich war glücklich, und hätte ich des Teufels Uhr besessen, ich hätte sie angehalten – tauchte gegen Mitternacht Riccardo Fantoni auf. Bei ihm war eine Frau mit dunklen langen Haaren, dunklen starken Brauen, die über der Nase nahe zueinander wuchsen, sie trug ein rotes Strickkleid, dessen Ärmel ihre Hände verbargen. Den Nacken hatte sie vorgeschoben, was streitsüchtig wirkte. Sie setzten sich in eine der Logen und bestellten je eine Suppe und ein Glas Rotwein. Riccardo bemerkte mich nicht.
Ich bat Vera, ob ich servieren dürfe, schlich mich mit dem Tablett heran, beugte mich zwischen die beiden und sagte: »Ciao, Riccardo! Ciao, Allegra!«
Wir blieben bis fünf Uhr. Vera gab mir den Schlüssel, ich solle absperren und ihn durch den Türschlitz werfen; was wir tränken, gehe aufs Haus.
Ich schlief in dieser Nacht nur wenige Stunden. Der Kater weckte mich; er schlug mir die Krallen ins Hemd, abwechselnd einmal die eine Pfote, dann die andere. Auf dem Rand des Waschbeckens saß das Rotkehlchen. Es war zurück von seiner Winterreise, so früh in diesem Jahr und fröhlich, als wäre es nur meinetwegen gekommen. Ich streckte den Finger aus, und es setzte sich darauf. Von nun an kam es jeden Tag zum Fenster hereingeflogen, pickte Körner und Krumen und trank Wasser aus der Schale, aus der auch der Kater trank. Ich hörte das Flattern der Flügel und das schnelle Zünglein des kleinen Tigers. Und Rotkehlchensprache lerne ich auch.
Ich war verzaubert, und ich wusste es.
8
Am meisten beeindruckte mich ihr Mund. Wenn sie zuhörte, zog er sich in die Breite und in den Winkeln ein wenig nach unten, dabei legte sie den Kopf schräg nach hinten und blickte mich aus schmalen Schlitzen heraus an. Es war ein Ausdruck schmerzlicher, hingabebereiter Leidenschaft; eine Lust zu leiden – ich fand keine andere Deutung und konnte gar nicht genug darüber staunen, denn dass ein Mensch gern leidet, davon hatte ich noch nie gehört, und ich hätte es nicht für möglich gehalten. Dieser Ausdruck zeigte sich aber nur, wenn sie zuhörte, und nur, wenn sie mir zuhörte. Ich war sehr neugierig auf dieses Gesicht und wollte sie immer wieder zuhören sehen, darum redete ich und redete und redete – und redete viel Unsinn, das heißt, ich spannte Dinge zusammen, die nicht zusammengehörten, verglich kreisende Himmelskörper mit den Blutkörperchen in unseren Adern, die weißen Blutkörperchen Sonnen, die roten Planeten, behauptete, Existenz sei nichts anderes als Bewegung, und ohne Bewegung seien die Dinge lediglich gedachte Dinge, anwesend, aber nicht vorhanden. »Wer sich nicht bewegt«, dozierte ich schlafwandlerisch, »existiert nicht. Aber wenn man sich bewegt, braucht man Platz, und dann ist oft ein anderer im Weg.« »Und was heißt das?«, fragte sie. »Das heißt … irgendwas, ja«, sagte ich. Ich schätzte, ich würde besser wegkommen, wenn ich der Droge einen Teil der Verantwortung für meine Verwirrtheit zuschöbe, zumal Allegra ja auch gern davon nahm, immerhin war ich eine Zeitlang ihr Dealer gewesen, also gab ich einen Hinweis in diese Richtung,
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