Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
woraufhin Riccardo zurückschnellte und sich hinter sie beugte und heftig den Zeigefinger auf seine Lippen presste.
Wir drei hatten uns für den folgenden Mittag – gemeint war drei Uhr nachmittags – im Café Altwien in der Bäckerstraße im 1. Bezirk zum Essen verabredet. Ich war schon eine Stunde früher dort. Ich versuchte, mit Gefühlen fertig zu werden, die ich nicht kannte, von denen ich aber wusste, dass sie zum Menschen gehörten wie Riechen und Schmecken; Gefühlen, die mit größter Wahrscheinlichkeit den anderen Gästen, die hier saßen mehr oder weniger geläufig waren wie mir Italienisch und Französisch, Spanisch, Ungarisch, ein wenig Türkisch und Schwizerdütsch. Ich hielt Verliebtheit tatsächlich für eine Art Sprache; aber ich wusste nicht, wer sie einem beibringen und wie man sie alleine mit sich üben könnte. Alles schien mir an diesem Tag voll Bedeutung zu sein – ein Fahrrad, das ich auf dem Weg vom Heim in die Innenstadt an einem Baum im Volksgarten lehnen sah und das wohl schon lange dort lehnte, denn über sein Vorderrad bog sich eine frische grüne Ranke und kringelte ihren Trieb zu den Speichen hinauf; oder die Marlboroschachtel auf einer der Parkbänke, in der eine vergessene Zigarette steckte, inzwischen braun, weil ein Regen drübergegangen war; oder die Mondsichel über dem Parlament, weiß und fransig wie eine Wolke. Genau so war mir Verliebtheit vom Italiano beschrieben worden, und Quique Jiménez hatte schwer nickend bestätigt, dass sie bei ihm Ähnliches ausgelöst habe. Es roch nach einem neuen Leben, und alles um mich herum schien mich zu meinen. Die Reste vom Herbstlaub gaben ihren letzten Duft nach Moder in die Sonnenwärme frei. Die Vergangenheit brauchte einen nicht mehr zu interessieren. Ich habe die ersten Stare gehört, die aus Afrika zurückgekehrt waren, so früh schon in diesem Jahr, wie das Rotkehlchen. Was gewesen ist, ist gewesen. »Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich; nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist«, sagte Meister Eckhart zu mir, zu mir allein. Und ich sagte zu ihm: »Es gibt nichts auf der Welt, worüber man sich mehr wundern müsste als über einen Menschen, der nicht an den Gott glaubt.«
Sie war noch schöner als in der Nacht in Veras Café . Ihr Gesicht war blass, sie hatte hohe, chinesisch anmutende Wangen. Ihre Stimme war etwas kurzatmig, und meine war es auch. Sie setzte sich zwischen mich und Riccardo, ihm wandte sie den Rücken zu. Ich dachte: Nein, es wundert mich tatsächlich nicht, es war überfällig; alles in meinem Leben geschieht zu meinem Wohl und zur rechten Zeit; ehe mir die Sehnsucht nach diesem Gefühl weh tun kann, verliebe ich mich, und alles wird gut werden; nicht Riccardo Fantoni wird Allegra heiraten, wie er mir einmal dargelegt hat, als wir nach einem Tischtennismatch im Schatten auf der Mauer saßen und uns gegenseitig Tschiks drehten, sondern ich werde sie heiraten; ich werde lernen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und mein bisheriges Leben wird sein, als hätte es wahrhaftig ein anderer gelebt oder gar keiner.
Ich sprach italienisch, sie deutsch. Sie sprach sehr gut Deutsch, mit nur wenig Akzent. Schließlich sprach ich ebenfalls nur Deutsch. Riccardo beteiligte sich nicht mehr am Gespräch; er saß da, die Arme verschränkt, und blickte zur Decke, den Kopf weit in den Nacken gelegt, so dass sein Adamsapfel hervorsprang.
Dabei gelang es mir nicht, ihr über eine längere Strecke zuzuhören, es gelang mir einfach nicht. Ihr Gesicht erzählte mir etwas anderes, und dieses andere wollte ich herauskriegen. Sie sprach über Politik, über große Umwälzungen und brennende Gefühlen für die Erniedrigten und Beleidigten von Peru bis Detroit, von Angola bis Berlin und Wien und über ihre Bewunderung für alle, die sich aufgelehnt hatten, von Spartakus bis Antonio Gramsci, von Pancho Villa bis Lumumba, von Ernst Thälmann bis Che Guevara, und dass ich unbedingt die Genossen kennen lernen müsse. Ob ich das wolle. Ja, das wolle ich, sagte ich. Sie sprach vom »grausamen, aber gerechten Handwerk des Weltgeistes« und von Aldo Moro, der heute – ja, heute, vor wenigen Stunden erst, ob ich denn nicht Radio höre? – in Italien von den Brigate Rosse entführt worden sei und der diesem grausamen Handwerk zum Opfer fallen werde wie seine fünf Leibwächter, was die Genossen klar und deutlich verurteilten, aber in letzter logischer Konsequenz doch
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