Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Birobidschan eine Kolchose, in der Ukraine eine Siedlung, und in der legendären Schweinebucht auf Kuba lag die Ernst-Thälmann-Insel. Und er sei nicht so streng wie Dr. Ernesto Che Guevara gewesen, sondern durchaus gemütlich und habe, wie es sich für einen Hamburger gehöre, gern ein Bier und einen Korn getrunken. Gern habe er die Hand seines Gegenübers genommen und die Finger zu einer Faust gefaltet. »Beter inne wiede Welt as in’n engen Buch, see de Jung un lött een fleegen«, war sein Wahlspruch. An Weihnachten zersägte er den Christbaum und brachte das Holz einem arbeitslosen Arbeiter, damit dessen Familie wenigstens am Heiligen Abend eine warme Stube habe. Die Nazis verschleppten ihn in ein Konzentrationslager. Sie wollten, dass er seine Genossen verrate, sie folterten ihn wie keinen zweiten, aber er blieb standhaft. Sie erschossen ihn und verbrannten ihn samt seinen Kleidern, was Zeugen daraus schlossen, dass der Rauch dunkel gewesen sei.
Am Ende dieses Heldenkatalogs, auf Leinwand vorgestellt im Luftschiff der Deutschen Demokratischen Republik über dem Atlantik, bekam jeder von uns ein schmales Buch geschenkt, in dem die Lebensgeschichten der Vorbilder nun auch in schriftlicher Form vorlagen.
In Havanna wohnte ich in einem Hotel zusammen mit Afrikanern. Es war nicht erlaubt, dass Männer und Frauen, die nicht verheiratet waren, in einem Zimmer schliefen. Weil unsere Hotels an verschiedenen Enden der Stadt lagen, sahen Allegra und ich uns während der ganzen Woche nur zweimal und nur kurz. Sie war wütend.
Ich teilte ein Zimmer mit einem Mann aus dem Senegal. Sein Name war Lamine N’Doye. Er war groß und tiefschwarz. Wir sprachen Französisch miteinander. Er brachte mir einige Worte und Wendungen in Wolof bei, der Umgangssprache der Senegalesen. Er hatte ein Chamäleon mitgebracht, weil die Hotels voll Ungeziefer seien. Lamine war schon einen Tag vor mir in Havanna angekommen. Er erzählte, er habe seine Sachen und das Chamäleon im Zimmer abgestellt und sei vier Stunden spazieren gegangen. In dieser Zeit habe dieu de la mouche alles aufgefressen, was sich bewegte und kleiner als ein Daumennagel war. So mache er es immer und überall. Die Welt sei voll Wanzen und Käfern und Blutsaugern. Das Chamäleon saß auf dem Kleiderschrank und beäugte mich. Seine schuppige Haut sah sehr alt aus, sein krummer Rücken unfreundlich. Ob ich mich in der Nacht vor dieu de la mouche fürchten müsse, fragte ich. Lamine schüttelte nur den Kopf. »Il est notre gardien. Il tue nos ennemis.« Er erzählte mir, er und sein Chamäleon seien schon seit einem Jahr auf Reisen, überall auf der Welt seien sie gewesen, in Amravati, in Chelyabinsk, in Sucre, in Edmonton, in Alice Springs, und überall habe er von den Schicksalsschlägen Afrikas berichtet, von der belgischen Handabhackerei, von der deutschen Volksvernichtung durch Hunger und Durst, von der holländischen, englischen, französischen Ausbeutung und Unterdrückung, von der arabischen Sklavenhatz, von den menschenfressenden Diktaturen und den korrupten Kaisern. In Kuba werde er in einer Arbeitsgruppe im Rahmen der Weltfestspiele der Jugend und Studenten auftreten, und er wisse, man werde ihn lieben und respektieren, wie man ihn überall auf der Welt geliebt und respektiert habe.
Wir beide hatten es gemütlich miteinander. Wir schwänzten die meisten Veranstaltungen und spazierten durch Havanna und bewunderten die alten amerikanischen Autos. Lamine verstand viel von Autos. Auch er hatte schon einmal in seinem Leben einen Cadillac Eldorado Biarritz gesehen, in Dakar, der habe einem Araber gehört. Wir setzten uns nebeneinander auf eine Gehsteigkante und sahen einem alten Mann mit weißen Haaren und weißem Schnauzbart zu, wie er unter einen türkisfarbenen Buick aus den fünfziger Jahren kroch und den Auspuff löste. Ich fragte den Mann auf Spanisch, ob wir ihm helfen könnten. Er teilte uns zu Handlangerarbeiten ein und gab uns Limonenwasser zu trinken.
Bei der großen Friedenskundgebung im Baseballstadion saßen Lamine und ich auf einer der breiten Längsseiten und sahen vor uns das sogenannte lebende Bild von Che Guevara. Tausend junge Kubaner in verschiedenfarbigen Hemden duckten und drehten sich, so dass sich ihre Rücken, ihre Bäuche und ihre Seiten als Farbpartikel zum Gesicht des Revolutionärs fügten. Ich dachte, nun würden uns auf die gleiche Weise auch die anderen Helden der Freiheit gezeigt, über die wir im Flugzeug unterrichtet worden waren.
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