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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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erklärte mir, was ich tun solle. Stempeln, sagte er. Es gibt nur wenige Dinge, die wahrer sind als ein Stempel. Niemand kennt jemanden, der je gefragt hätte, ob ein Stempel wahr ist oder nicht. Und wenn gleich fünf oder sechs oder sieben Stempel auf einer Seite im Pass sind, zwei oder drei gleiche, die anderen verschieden, alle kreuz und quer und zum Teil übereinander, dann ist es, als hätten der Gott und der Teufel gestempelt, und nicht einmal ein Major der Állmavédelmi Hatóság würde es wagen, eine Frage zu stellen. Erfinde irgendwelche Stempel, schneide sie aus einem Korken oder aus Linoleum, beschmiere sie mit Kugelschreibertinte, die du mit einem Tröpfchen Terpentin verdünnst und mit ein bisschen Mehl mischst, damit sie nicht klebt und damit sie verbraucht aussieht! Und dann leg los! Das Rotkehlchen riet, ich solle auf einem der kubanischen Stempel ein Palmenblatt abbilden und auf dem Stempel der DDR ein Eichenblatt. Der Kater meinte, es wäre günstig, rote, schwarze, blaue und grüne Kulis zu verwenden und die Farben zu mischen, und schlug weiters vor, wenigstens einen Stempel zusätzlich mit einer erfundenen Unterschrift zu bekräftigen.
    Ich rief Allegra, bat sie um grüne, schwarze, rote und blaue Kugelschreiber, von jedem am besten zehn Stück, weiters um eine kleine Tasse Mehl, eine kleine Tasse Wasser, ein Fläschchen Terpentin, ein Skalpell, zwei Dutzend Weinkorken, ein großes Stück Linoleum und einen Stapel Papier. Sie besorgte die Dinge, und ich schloss mich wieder ein. Nach zehn Stunden ohne zu rauchen und ohne etwas zu essen war ich fertig. Über die tatsächlichen Stempel in Riccardos Pass hatte ich andere Stempel gedrückt, und zwar in einer Anordnung, dass die wahren Einreisedaten in die DDR und nach Kuba nicht mehr gelesen werden konnten. Auf meinen Stempeln aber, solchen mit Palmenmotiven und solchen mit Eichenblattmotiven und ein paar anderen dazu, konnte man mehrfach und deutlich erkennen, dass der Inhaber des Passes zu einer bestimmten Zeit Österreich verlassen, die DDR betreten, die DDR verlassen und die Republik Kuba betreten und zu einer bestimmten Zeit die Republik Kuba verlassen, die DDR betreten und die DDR verlassen hatte und schließlich wieder in Österreich angekommen war – und diese bestimmten Zeiten bewiesen: dass Riccardo Fantoni vom 16. März bis zum 9. Mai 1978 nicht in Italien gewesen war, sondern in Kuba, ergo mit der Entführung und Ermordung Aldo Moros nicht in Zusammenhang gebracht werden konnte.
    »Warum, Joeel«, fragte Allegra, »gibst du dir solche Mühe mit der Kugelschreibertinte und dem Mehl und dem Terpentin und verwendest nicht einfach ein Stempelkissen?«
    »Weil das Echte oft nicht so echt aussieht wie das Falsche«, zitierte ich Major Hajós.
    Allegra fuhr nach Italien zurück und übergab den Pass an Riccardos Anwalt.
     

7
     
    Das Abenteuer auf Kuba hatte mir wohlgetan – besonders die Nachtspaziergänge mit Lamine N’Doye, während der er mich in Wolof unterwies, und auch die Versteckspiele mit seinem Chamäleon, das sich in die Farben der Tapete, der Vorhänge, von Lamines T-Shirt und meinem Rucksack einfügte –, aber es hatte mich auch abgelenkt von meinen philosophischen Gedanken. Ich hatte in den Wochen und Monaten vor unserer Reise nach Kuba Gefallen an philosophischen Gedanken gefunden, und die Aufgabe, die allein meine Aufgabe ist, eben im Sinn von Ernst Kochs Interpretation von Matthäus 25,14–30, wollte ich nicht aus den Augen verlieren. Ich hatte inzwischen keine Zweifel mehr, dass sich daraus tatsächlich eine praktikable Möglichkeit ergeben könnte, trotz allem ein guter Mensch zu sein. Mit »trotz allem« meinte ich die megalomanen Überlebenstriebe, die unausgesetzt in unseren Lungen, Adern, Nerven, Därmen ihren Lärm veranstalten mit der Absicht, die anderen Erdgenossen erzittern zu lassen. Es erleichtert das Leben wesentlich, wenn man alles darf, solange man sich nur um einen einzigen Menschen kümmert. Wer das einsieht, kann durchatmen.
    Allegra, wie gesagt, fuhr bald, nachdem wir aus Kuba in Wien angekommen waren, weiter nach Turin, in ihrer Tasche Riccardos Pass. Ihre Auslandssemester waren beendet, ihr Studium wollte sie in Italien abschließen, in Mailand, in Rom, in Florenz. (Ich wusste nie genau, was sie eigentlich studierte. Wenn ich fragte, sagte sie jedes Mal, zwischen uns gebe es wichtigere Themen zu bereden.) Ich versprach, am 1. September nachzukommen, sobald ich meinen Job im Studentenheim abgeleistet

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