Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Nähe vom Westbahnhof, in der Avedikstraße, gleich bei den Geleisen, da besaß sie nur, was sie an ihrem abgemagerten Körper trug, das enge Samtröckchen, das enge Jäckchen aus rosa Kunstleder und dieses Buch. Das habe ihr einer vermacht. Wer? Einer eben. Das Buch war Hoffnung und letzter Trost für sie gewesen. Der Autor sei wie sie heroinsüchtig gewesen, wie sie und wie der, der ihr das Buch vermacht habe. Der Franzose habe sich selbst mit Hilfe des Giftes aus dem Peyote der Tarahumaras geheilt. Das Gift führe das Ich zu seinen wahren Quellen zurück, schreibe er in dem Buch. Wenn man einen solchen visionären Zustand erreicht habe, sei es ausgeschlossen, dass man wie zuvor die Lüge mit der Wahrheit verwechsle. Man habe dann gesehen, woher man komme und wer man sei, und man zweifle nicht mehr an dem, was man sei. Das Gift werde von den Nachfahren der Azteken in der Sierra Madre Occidental einmal im Jahr in einem geheimen Ritual eingenommen, um sich von den bösen Taten der bösen Geister zu reinigen. Wem es erlaubt sei, an dem Ritual teilzunehmen, der werde geheilt. Worauf ich im verzweifelten Übermut meiner verzweifelten Mission vorgeschlagen hatte, nach Mexiko zu fahren und die Tarahumaras zu suchen und zu besuchen. Ich war es, der den Vorschlag gemacht hatte. Ich. – Lange bin ich geblieben, Janna für immer …
Noch drei Nächte durfte ich in dem warmen, weichen Bett in der Dachwohnung am Minoritenplatz hinter dem Burgtheater schlafen, noch drei Tage durfte ich über die Badewanne verfügen, sie mit heißem Wasser volllaufen lassen und mich hineinlegen; noch drei Tage durfte ich mich an den Küchentisch setzen und Radio hören. Noch einmal ließ ich mich von den Männern im Wickerl zum Essen und Trinken einladen. Ich hatte ihnen gesagt, ich werde verreisen, den Kontinent verlassen und, falls meine Pläne aufgingen, nicht wiederkommen. Zurück nach Mexiko? Ja, vielleicht zurück nach Mexiko. Warum vielleicht, was steht denn noch zur Debatte? Nichts, eigentlich nichts. Also Mexiko? Ja, Mexiko. Der reiche Großwildjäger schenkte mir eine Flasche edlen Cognac, der habe fünfzehn Jahre lang in einem Fass und seit weiteren fünf Jahren in seinem Keller auf mich gewartet; Florian, der Kraftfahrer bei Baer-Trans Güterbeförderung GembH in Währing, brachte einen Kuchen mit, den seine Lebensgefährtin gebacken hatte, ein Blech mit verschiedenen Fruchtabteilungen, wir aßen alle davon; Mihailo Moravac, der Verkäufer bei der Nike Computer-Handels-Gesellschaft in der Brigittenau, überreichte mir ein Sudoku-Buch für die Reise, vier Schwierigkeitsgrade, Auflösung hinten; Pezi Vogel, der pensionierte Handelsakademielehrer, sagte, es tue ihm leid, dass wir beide uns nicht näher kennen gelernt hätten, einmal habe er überlegt, mich zu sich nach Hause zum Essen einzuladen, aber er sei eben Witwer und Alleinversorger und es hätte nur ein aufgewärmtes Reisfleisch gegeben; Wolfgang, der Witzbold von der MA 45 Wiener Gewässer, brachte ein gerahmtes Foto mit, auf dem wir alle zu sehen waren, wie wir uns im Wickerl um die Bar drängten, jeder hatte mit Filzstift auf seine Brust unterschrieben; und schließlich Dr. Christof Dittl, der Kardiologe, er gab mir die Hand und wünschte mir alles Gute.
Ich dachte, dies sei ein letzter Abschied.
5
Ende Februar – meine Koffer hatte ich nach meinem letzten Frühstück bei Frau Berchtel, der Hausbesorgerin, untergestellt – schlug ich dem Gott vor, er solle mir entweder unter einer Laterne entgegentreten und mir mitteilen, dass er mir seine Hilfe aufkündige – er brauche mir auch keine Gründe dafür anzugeben –, oder aber er möge mir eine Tür öffnen. Wenn letzteres, bitte vor dem Abend. Länger konnte ich die Koffer bei Frau Berchtel nicht stehen lassen. Ich überließ mich meinen Füßen und seinem Willen und seinem Weg. Der Gott könne keine Landschaft erschaffen, die ganz von ihm verlassen sei, heißt es in einer Sprüchesammlung, und: alles Geschehen sei ein Sicherfüllen. Ich ging in die Innenstadt zum Stephansplatz und die Singerstraße hinunter (vorbei an dem Haus, in dem Allegra gewohnt hatte) und – sah durch das Fenster der Cantinetta La Norma Sebastian vor einem Teller Spaghetti sitzen.
Er unterhielt sich mit einem Mann. Das heißt, er hörte ihm zu. Ich stellte mich in den Eingang der Apotheke gegenüber und beobachtete die beiden.
Ich habe ihn sofort erkannt. Ein bisschen fester war er geworden, was ihm, ehrlich gesagt, nicht gut
Weitere Kostenlose Bücher