Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
der in dir steckt und solches Unheil anrichtet. Woher kommt der, der in dir steckt und solches Unheil anrichtet? Wie konntest du es zulassen, dass er in dich hineinkroch, um solches Unheil anzurichten? Du bist doch ein anderer. Warum fütterst du ihn weiterhin? Wie wirst du ihn wieder los? Dreimal bereits waren wir in die Berge zu den Tarahumaras gefahren und hatten uns diese Menschen angesehen, die übrig geblieben waren von den ebenso mysteriösen wie ominösen Nachfahren der Azteken, die ein ebenso ominöser wie bemitleidenswerter französischer Dichter als die Heilsbringer aller Fixer dieser Welt beschrieben hat – dreimal schon waren wir hier gewesen, ohne irgendeinen Effekt, ohne irgendeinen Erfolg! Nicht diese Menschen mit dem traurigen Blick, die sich uns in ihrer Tracht präsentierten, weil ihnen eingeredet wurde, die Tracht erhöhe das Trinkgeld, lieferten die Löschblattfetzen mit LSD, dem heruntergekommenen Vetter des heiligen Peyote, sondern die Touristen tauschten es untereinander, LSD gegen Heroin, dazu hätten sie nicht nach Mexiko zu fahren brauchen, von Kanada herunter, von Dänemark herüber oder aus Wien. Und jedes Mal waren wir nach Mexico City zurückgekehrt, nach Coyoacán in das blaue Haus, das zur Hälfte als Jugendherberge, zur Hälfte als Hotel betrieben wurde. Und ich war bitter geworden. Und ich war böse geworden. Ich habe, ohne etwas zu empfinden, zugesehen, wie der Mensch, für den Sorge zu tragen ich dem Gott versprochen hatte, sich die Nadel in die Innenseite des Oberschenkels stach, und der Dämon in mir hat mir eingeflüstert, es sei meine Pflicht, Janna niederzumachen. Du musst den Sucht- und Giftteufel in ihr zerbrechen, er hat sich um sie gelegt zu einer harten, arroganten Kruste. Wenn du die harte, arrogante Kruste zerbrichst, kommt die Janna zum Vorschein, die echte Janna. Die hier ist nicht die echte Janna, die hier darfst du demütigen, die hier sollst du demütigen, die hier ist nicht Janna, die nicht. Und ich antwortete: Sie ist doch gar nicht arrogant, nein, das ist sie doch gar nicht. Aber ihr Verhalten ist arrogant, entgegnete der Dämon, sie ist es vielleicht nicht, die sie jetzt ist, die ist nicht die echte Janna, vergiss das nicht. Genauso wie du nicht ich bist, hätte ich dem Dämon antworten sollen. Ich aber habe gegrinst über den Narren, der ich gewesen war, als ich die tiefste Kammer in meinem Herzen für Janna geöffnet hatte, für sie, die nicht gewusst hatte, wer ich bin – vergebliche Jahre lang nichts davon gewusst hatte, bis ich es ihr wenige Stunden vor ihrem Tod offenbarte.
Wenn der gute Weg beschwerlich wurde, verließ ich ihn. Ich vertraute nur jenen Schneisen, die ich selbst in den Wald geschlagen hatte; die anderen benützte ich; aber mit Vorsicht. Ich war immer überzeugt, die Lüge sei tägliches Lebenshandwerk; ohne sie begebe sich ein Mann in fremde Hände. Die Lüge ist die am wenigsten aufwendige Form der Abweichung vom Guten. Darum wählte ich sie immer als erstes. Ich bin Menschen begegnet, die hielten die Lüge für verabscheuungswürdiger als den Mord. Sie waren Lügner und keine Mörder. Von der großen Lüge sind beeindruckt, die in der kleinen Lüge versagen. Die eine große Lüge, die Lebenslüge , gibt es nicht; sie setzt sich zusammen aus vielen kleinen Lügen. Wenn die kleinen Lügen schief sind, kracht das große Gebäude in sich zusammen. Das Gute und das Böse definiert immer ein anderer. Ob dies sinnvoll ist oder nicht, definiert auch immer ein anderer.
Gibt es Menschen, denen die Wahrheit tatsächlich etwas bedeutet? Mir ist nie einer begegnet. Ich habe viele Menschen getroffen, die von mir erwarteten, dass ich ihnen die Wahrheit sagte, das schon. Wenn ich aber genauer nachfragte und untersuchte, was sie darunter verstehen könnten, stieß ich jedes Mal nur wieder auf Begriffe. Und was können Begriffe einem schon bedeuten? Wenn ich mich bemühte, aus den Begriffen lebendige Begebenheiten zu herauszulösen, war nichts zu finden. Nichts Rühmliches jedenfalls. Meistens ließ sich »Sag mir die Wahrheit!« in »Tu, was ich will!« übersetzen. Das »Unterwirf dich der Wahrheit!« hieß: »Unterwirf dich mir!« Wo der Verstand die Rolle des Herzens spielt oder das Herz die Rolle des Verstandes, herrscht Verwirrung, die entweder vom Verstand oder vom Herzen gewollt ist, und zwar mit dem Zweck, andere zu täuschen. Mittelmäßige Lügner gehen gern so vor. Der Verstand werde stets vom Herzen getäuscht, heißt es aus ihrem Mund
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