Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
– aber ist das die Wahrheit? Wer schmeichelhafte Dinge auf gefällige Art sagt, ohne davon zu profitieren, ist lächerlich und wird verachtet; wer dagegen davon profitiert, hat recht und gilt als klug und charmant. Ich galt den Menschen, denen ich begegnete, als klug und charmant. Sie hielten mich für einen Profiteur und Sieger. Dabei spielte ein Begriff wie Wahrheit nie eine Rolle.
Ich besaß Jannas Mütze. Darin war ihr Geruch. Ich hatte sie nicht ihretwegen aufgehoben. Ich hatte vergessen, sie wegzuwerfen oder sie einfach liegenzulassen, als ich aufbrach. Immer wieder war die Mütze da gewesen, lag zwischen den Hemden, hatte sich im Futter des Koffers versteckt, fand sich in der Tasche meines Mantels wieder. Sie erinnerte mich nicht mehr an Janna, sie erinnerte mich an sich selbst. Die Mütze war in drei Farben gestrickt, obenauf war ein Bommel, innen ein Futter aus Vlies, um den Wind abzuhalten. Janna hatte sie tief über die Ohren gezogen. Die Ohren, sagte sie, seien an ihrem Kopf das einzige, was friere.
Wenn ein Ofen in der Nähe war, legte ich die Hände darauf, bis ich die Hitze nicht mehr aushielt, und dann wärmte ich ihre Ohren. Das war in einem kleinen Bahnhof in der Barranca del Cobre auf der Sierra gewesen, als wir das erste Mal aus dem Zug gestiegen waren, um die Tarahumaras zu suchen und zu besuchen, was sich Janna so sehr gewünscht hatte; auch in einer Bar in Creel war ein Ofen gewesen, ein gusseiserner aus den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, gebaut in Leipzig; und das war auch bei Ruben und Itzel Obrador in Tepoztlán so gewesen, denen wir uns als Mann und Frau vorgestellt und die uns über Nacht ihre geheizte Stube zur Verfügung gestellt hatten, die einzigen, die länger als eine Stunde freundlich zu uns waren; und das war im Lesesaal einer kleinen deutschen Bibliothek in Mexico City so gewesen, wohin wir geflüchtet waren, weil draußen ein Sturm von den Bergen in die Ebene hinunterbrauste, der sogar die Augäpfel kalt werden ließ. Im Zug von Los Mochis nach Chihuahua erzählte ich Janna die Geschichte von dem Mann im Zug von Moskau nach Jekaterinburg. Dass er, als wir an unserem Ziel angekommen waren, mir ein Messer mit einer Holzklinge geschenkt hatte. Er habe es für seinen Sohn geschnitzt, hatte er gesagt, aber der würde es gewiss nicht zu schätzen wissen. Mein Sohn ist weich, hatte er gesagt, und dass ihm das einerseits gefalle, andererseits missfalle. Einerseits sei dies beruhigend, weil das Leben seines Sohnes wahrscheinlich gesetzt und zufrieden verlaufen werde. Er werde sich eine wuchtige Frau suchen, die sich um ihn kümmere. Andererseits wolle er sich nicht vorstellen, wie sein Sohn von einer wuchtigen Frau gehätschelt werde. Ich sagte zu dem Mann: Dein Sohn wird glücklich werden, und auf das Messer werde ich achtgeben. Er bedankte sich bei mir, bedankte sich, dass ein Fremder wie ich seine Sprache gelernt habe. Natürlich hast du nicht an mich gedacht, als du Russisch gelernt hast, sagte er, du hast nicht an mich denken können, wie wäre das möglich gewesen ohne Hellseherei, aber an irgendwelche russische Menschen musst du gedacht haben, niemand lernt eine Sprache und spricht sie nur mit sich selbst. Diese russischen Menschen sind nur Gedanken gewesen, aber ich, sagte er, ich habe mich von einem Gedanken in einen wirklichen russischen Menschen verwandelt. Durch Gottgedanken und Gebete verwandle sich das Messer eines Tages von einem Holzmesser in ein wirkliches Messer, sagte er und küsste mich auf den Mund. In deiner Hand wird es geschehen, in der Hand meines Sohnes nicht.
Hat er dich wirklich auf den Mund geküsst?, fragte Janna.
Auf den Mund, ja.
Sie wischte sich die Lippen ab und küsste mich auf den Mund.
So?
So ähnlich, sagte ich.
Hast du das Messer noch?
Ja.
Zeigst du es mir?
Ich zeigte es ihr.
Aber das ist ja ein ganz normales Messer, sagte sie. Es ist kein Holzmesser.
Dann hat es sich schon verwandelt.
Du schwindelst.
Ja.
In Jannas Mütze eingewickelt war das Buch jenes französischen Dichters, der einen poetischen Bericht über seinen Besuch bei den Tarahumaras geschrieben hatte – ein verhängnisvolles Buch, wie ich fand, weil seinem Aufruf so viele Menschen gefolgt waren, die meisten mit roten Tüchern um die Stirn. Die Deckblätter fehlten, die ersten Seiten und die letzten Seiten fehlten. Als ich Janna nach so vielen Jahren Wanderschaft durch so viele Länder in Wien wiedergefunden hatte, in einer aufgelassenen Garage in der
Weitere Kostenlose Bücher