Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Attentäter warten an einer Straßenecke auf Adolf Hitler, sie wollen ihn mit einer Bombe in die Luft sprengen. Der Führer besucht ihre Stadt, die Zeremonie ist von der Partei bis ins Kleinste geplant. Auf die Minute genau sollte der Mercedes, in dem er, stehend, den Arm ausgestreckt, das Volk grüßt, jene Straßenecke passieren. Die Attentäter blicken nervös auf ihre Uhr. Bereits eine Minute über dem Termin! Eine weitere Minute darüber! Gar eine dritte Minute darüber! Sagt der eine: »Wo er nur bleibt?« Sagt der andere: »Es wird ihm doch nichts passiert sein.«
Robert Lenobel führte aus, dass dieser Witz zweifellos lustig sei und dass auch über ihn lache, wer von der Geschichte des Judentums keine große Ahnung habe; dass die tiefere Bedeutung des Witzes aber nur erfasse, wer die Tora gelesen und dort im Besonderen die Geschichte Abrahams und die Opferung seines Sohnes Isaak studiert habe. An keiner anderen Stelle des Tanachs werde die Thematik von Mord und Mitleid auf so schonungslose Weise, allerdings in der Form einer Geschichte, zur Diskussion gestellt. Und ebendiese schonungslose Weise greife der Witz auf, in der Form einer Verdrehung, was aber gerade das Herrliche an dem Witz sei – in einem religiösen Sinn – und das Heroische an dem Witz sei – in einem aufgeklärten Sinn.
»Gott«, referierte Robert Lenobel und ging dabei vor uns auf und ab, »Gott stellt Abraham auf die Probe und befiehlt ihm, Isaak, den einzigen, über alles geliebten Sohn, auf den Abraham und seine Frau Sara so lange gewartet hatten, auf einen Berg zu führen, ihn dort zu töten und ihm als Brandopfer darzubringen. Das heißt, der Vater soll seinem Sohn die Kehle durchschneiden und anschießend die Leiche verbrennen. Dies der Befehl Gottes. Und Abraham? Er reagiert mit mechanischer Unterordnung. Er lehnt sich nicht auf. Er fragt nicht einmal nach. Er weint nicht. Er hat keine schlaflose Nacht. Jedenfalls wird nicht davon berichtet. Es heißt: Er selbst nahm Feuer und Messer in die Hand und führte seinen Sohn auf den Berg. Nach einer Weile sagt Isaak, der noch ein Knabe ist, ein Kind: Vater, hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? Und Abraham lügt. Er lügt, indem er die Wahrheit sagt. Er sagt: Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn. Das ist einerseits die Wahrheit, andererseits ist es eine Lüge. Die Lüge liegt im Tempus. Gott hat sich das Opferlamm bereits ausgesucht. Der Text ist von unübertrefflicher Schlichtheit und Kälte. Es heißt: Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Der Mord an seinem Sohn erscheint Abraham als eine Notwendigkeit, der zu widersprechen ebenso sinnlos wäre, wie einem Naturgesetz zu widersprechen. Gott schafft die Gesetze, alle Gesetze. Mitleid wäre unbotmäßig und dumm. Gott ist der Täter. Schuldgefühle wären unbotmäßig und dumm. Doch wie geht es weiter? Abraham streckt seine Hand aus und nimmt das Messer, um seinen Sohn zu schlachten, und in ebendieser Sekunde ruft der Engel des Herrn vom Himmel herab, er solle dem Kind nichts zuleide tun. Gott ist der Täter, und der Täter hat Mitleid. Abraham ist nur das Werkzeug. In dem Witz von den beiden Attentätern verhält es sich ähnlich – und doch diametral anders. Die beiden Juden sind zweifellos Werkzeug. Sind sie auch die Täter? Ich sage: nein. Der Täter ist die Moral. Gut, das kann man immer sagen. Aber in diesem Fall sollten wir genauer hinsehen. In unserer modernen Welt fallen Moral und Gesetz nicht notwendig in eines. Es wird manches als unmoralisch empfunden, was vom Gesetz nicht geahndet, und manches vom Gesetz geahndet, was nicht als unmoralisch empfunden wird. Zu Abrahams Zeiten waren Moral und Gesetz eines, und dieses Eine ging von Gott aus. Dieses Eine war Gott. In moderner Zeit gilt Mord sowohl als unmoralisch als auch als ungesetzlich. Auch zur Zeit des Nationalsozialismus gab es Gesetze, und Mord stand unter Strafe. Jedoch, wie wir wissen, nicht jeder Mord. Nicht der Mord an sechs Millionen Juden, nicht der Mord an Sinti und Roma, an Homosexuellen und an Geisteskranken. Um diesen Mord zu verurteilen, war also eine Moral nötig, die über dem Gesetz stand und sich gegen das Gesetz richtete. Und was sagte diese Moral? Sagte sie, du darfst nicht töten, und zwar keinen Menschen darfst du töten, auch keinen Juden, auch keinen Zigeuner, keinen
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