Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
jedem ein bisschen.
»Wie geht es dir?«, fragte Evelyn.
»Du meinst, seit dem Infarkt?«
»Du kannst genauso gut und genauso lange leben, als hättest du keinen gehabt.«
»Danke, dass du das sagst. Aber vielleicht sieht das Leben nach dem Tod ja so aus wie das Leben auf diesem Bild.«
Ich bat Evelyn, mit mir gemeinsam das Bild näher zu betrachten. Wir zogen uns die Schuhe aus und stiegen auf die Couch. Bisher hatte ich es nur aus einer Entfernung von mindestens zwei Metern betrachtet; nun sah ich in der rechten oberen Ecke eine Szene, die mir bisher entgangen war, auch weil das Licht der Lampe nicht bis hinauf reichte. Man musste sehr nahe herangehen, um die Einzelheiten unterscheiden zu können. Evelyn war zu klein, und wenn sie von unten heraufblickte, verzerrte sich ihr Winkel, so dass sie wahrscheinlich nur verwischte Farben und Formen wahrnahm. Es war eine Personengruppe dargestellt, Männer und Frauen. Vor ihnen am Boden waren zwei Vögel, ein Falke und eine Taube. Die Taube lag unter dem Falken, ihre Beine standen in die Höhe, sie lag auf dem Rücken, der Kopf war zur Seite gedreht. Ihr Hals war aufgerissen, Blut floss über die Federn auf ihre Brust. Der Falke pickte Fetzen aus ihr heraus. Die Männer und Frauen waren in Aufruhr, einige bückten sich, andere holten aus, wieder andere warfen mit Steinen, die sie vom Boden aufgelesen hatten. Da sah ich, dass auch der Falke blutete. Die Männer und Frauen steinigten den Falken. Einer der Männer blickte mich direkt an, er hatte den Arm erhoben, in der Hand hielt er einen Bierkrug, sein Mund war weit geöffnet. Er schien mir zuzurufen, die Sache sei erledigt, und damit konnte er nichts anderes meinen als, der Falke sei erledigt. Und tatsächlich, als ich mir den Falken genauer ansah, bestand kein Zweifel, dass er im Niedersinken begriffen war, dass er gleich sterben würde, und ich sah, dass sich die Taube unter seinen Krallen zu regen begann, dass der Gruß des Biertrinkers also auch heißen konnte, die Sache sei erledigt, die Taube sei befreit.
Das Bild hatten Hanna und Robert von ihrer Hochzeitsreise mitgebracht, erzählte uns Sebastian, als wir in der Nacht bei dichtem Schneefall durch die Stadt nach Hause gingen; sie seien zwei Monate mit einem Wohnmobil quer durch die USA gereist, es vergehe kein Besuch, bei dem sie nicht von diesem Abenteuer erzählten. Mir hatten die beiden nie davon erzählt. Als wir auf der Couch gestanden waren, hatte mich Evelyn gefragt, was es oben rechts auf dem Bild zu sehen gebe. »Ein paar Leute bei einem Picknick«, hatte ich geantwortet. »Es soll gezeigt werden, wozu das Produkt der Joseph Schlitz Brewing Company aus Wisconsin verwendet werden kann. Zum Trinken und Zuprosten nämlich.«
Dreimal in der Woche absolvierte ich meine Rehabilitation. Sie bestand aus einem einstündigen Vortrag, alternierend zu Fragen der Ernährung oder zu Fragen der Psyche oder zu Themen der Herzmedizin, ferner einer Stunde Gymnastik und schließlich einer Stunde Ausdauertraining auf einem Fahrrad, das kein Fahrrad war. Nach eineinhalb Monaten war ich durch. Geraten wurde, weiter vier- bis fünfmal in der Woche je eine Stunde auf dem Hometrainer die Pedale zu treten oder zu laufen, auf jeden Fall, bei dem einen wie bei dem anderen, einen Herzfrequenzmesser zu benutzen.
Ich nahm das Schachspiel wieder auf. Die Sesshaften saßen, kauerten, hockten wie die Nebelkrähen, Smart Export, rote Gauloises, gelbe Parisienne, Marlboro und Camel in ihren Schnäbeln. Sie gaben mir meinen Platz wieder frei. Das Geld reichte, um für Sebastian und mich und gelegentlich für Evelyn Essen und Trinken zu besorgen.
An den Mittwochabenden besuchte ich das Gasthaus Wickerl . Niemand stellte eine Frage. Keiner wollte wissen, wie die Fauna und Flora in Mexiko beschaffen sei. Florian, der Kraftfahrer, war nicht mehr dabei, er sei nach Simmering gezogen, weit in den Osten des Bezirks, er arbeite inzwischen auch dort, der Weg in die Stadt sei ihm zu weit. Zwei Neue waren hinzugekommen: Dipl.-Ing. Heinz Werner, ehemaliger Vorstandsdirektor der ÖBB Personenverkehr AG und der Postbus AG, pensioniert, Hinterwandinfarkt, einen Bypass; und Armin Gatterer, Angestellter in einem Beratungsunternehmen, zwei Stents, Hypertoniker und Diabetiker, depressiv. Dipl.-Tzt. Gert Manger nahm nicht mehr an den Treffen teil, er habe im Sommer einen zweiten Infarkt erlitten, Näheres wusste man nicht. Minister Wolfram hatte anderes zu tun, als sich zusammen mit ehemaligen
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