Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Homosexuellen und keinen Idioten? Nein, das sagte diese Moral nicht. Sie sagte: Du darfst keinen Menschen töten, nur den Tyrannen darfst du töten. Und zu den beiden jüdischen Attentätern sagte sie: Ihr müsst den Tyrannen töten! Diese Moral befiehlt ihnen den notwendigen Mord. Wie Gott dem Abraham den notwendigen Mord befohlen hat. Diese Moral ist der Täter. Wie Gott der Täter ist. Die beiden Juden sind das Werkzeug der Moral. Wie Abraham das Werkzeug Gottes ist. In der Geschichte aus dem Bereschit überfällt Gott ein unbotmäßiges Mitleid mit Isaak – merkwürdigerweise nicht mit Abraham und Sara –, und der Engel des Herrn – in Stellvertretung Gottes, vielleicht weil der sich schämte – befiehlt, das Kind leben zu lassen. Im Witz sorgt sich einer der Attentäter um Hitler. ›Es wird ihm doch nichts passiert sein.‹ Aber was heißt das? Was könnte dem Führer passiert sein? Dass er von anderen Attentätern getötet wurde, bevor die beiden Juden zum Zug kamen? Dann würde der Erfinder des Witzes die Sorge des Attentäters anders ausgedrückt haben. Nein. Gemeint ist die sogenannte höhere Gewalt, ein Unfall oder ein Infarkt oder ein Hirnschlag – in so einem Fall sagt man: Es wird ihm doch nichts passiert sein. Aber wer wäre schuld an einem Unfall, einem Infarkt? Eine über dem Menschen stehende Instanz, die höhere Gewalt eben. Gott eben. Und das ist das Kuriose an diesem Witz, das ist das Witzige an diesem Witz: Vor dem Gedanken, Gott könnte Hitler zum Beispiel mit Hilfe eines Infarktes hinweggerafft haben, zeigen sich die Attentäter solidarisch und mitleidig mit dem Tyrannen. Nun geht es nicht mehr um Unterdrückte versus Tyrann, Juden versus Hitler, höhere Moral versus nationalsozialistische Gesetzgebung, sondern um Mensch versus Gott. Insofern ist dieser Witz die Fortführung der Abraham-Isaak-Geschichte hinein in die aufgeklärte Zeit, in der, wie wir wissen, selbst der Beruf des Generals keinen ausreichenden Schutz mehr bietet …«
Ich liebte die Abende bei den Lenobels! Es gab reichlich gutes Essen; ich fühlte mich aufgenommen; erst war ich nur mit Hanno per du – ich habe ihm die Freundschaft angeboten, als wir gemeinsam die Zündung an seinem BMW reparierten –, bald auch mit Klara – in der fremden Sprache war es leichter als in Deutsch –, schließlich mit Hanna; und zuletzt mit Robert, was unsere an Artigkeit überladene Kommunikation beendete, von nun an spielte ich gern seinen Verbündeten, in welchem Wortkampf auch immer.
Einmal gelang es uns, Evelyn zu überreden mitzugehen. Sie hat nicht viel zur Unterhaltung beigetragen. Robert aber hat aufgegeigt. Hanna war eifersüchtig. Und Sebastian war genervt.
Wir saßen nach dem Essen im Wohnzimmer, das zugleich Roberts Arbeitszimmer und die Bibliothek war. Hanna zündete das vorbereitete Holz im Kamin an; Evelyn und ich setzten uns nebeneinander auf das Sofa; Robert goss das Kaffeewasser in der Küche auf, Sebastian leistete ihm Gesellschaft. Über dem Sofa hing eine alte Reklametafel aus Blech, zwei Meter mal einen Meter fünfzig. Darauf war Joseph Schlitz Brewing Company in Wisconsin abgebildet – »The beer that made Milwaukee famous«; detailgenau auf cremegrünem Grund gemalt: Wagen, die abgeladen und aufgeladen werden; Männer mit Schiebermützen, die Fässer vor sich her rollen; Pferde, die angeschirrt und abgespannt, zur Tränke geführt, gestriegelt und beschlagen werden; der Brauereibesitzer, Mr. Schlitz jr. persönlich, in schwarzem Anzug mit Zylinder, der gerade aus seinem Automobil steigt und mit kumpelhaftem Mützenschwenk von den Arbeitern begrüßt wird; aus dem Seitenfenster des Wagens schaut die behandschuhte Hand der Lady. Im Zentrum des Bildes prangen die mit Klinker gemauerten Gebäude der Brauerei, durch deren Fenster man die Kupferkessel sehen kann. Daneben steht der Verwaltungstrakt mit kleinen Balkonen – auf einem sind zwei Männer zu sehen, beide ohne Jackett, Ärmelschoner über den Ellbogen, auf der Stirn ein grüner Lichtschutz, sie rauchen Zigaretten und winken ihrem Boss zu. Im Hintergrund erstreckt sich freies Land, auf dem schon Bagger warten und Kräne aufgestellt werden, um neue Fabrikhallen zu errichten. Jedes Ding, jede Person hatte eine Nummer, am Rand des Bildes stand die Legende. An manchen Stellen blätterte Farbe ab, darunter blühte der Rost. Ich konnte nicht genug haben von dem Bild, wünschte mich hinein, dort war jedem eine sinnvolle Rolle zugewiesen, und alles gehörte
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