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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Technik. Sie begleiteten und beobachteten mich, sie grüßten mich und nickten mir zu und lächelten nicht. Sie waren meinesgleichen, sie waren nichtfremde Fremde. Ich war allein und war nicht allein.
     
    Das Westgeld, das mir beim Eintritt in die Deutsche Demokratische Republik abgenommen worden war, wurde mir zurückgegeben. Nicht ein Schein fehlte – 5000 Schilling, 5000 D-Mark, 5000 amerikanische Dollar. Ich wollte den Überbringern ein Trinkgeld geben. Sie lehnten ab.
     

5
     
    Mir wurde ein Diener zugewiesen. Von wem? Das wusste ich nicht. Es war ein Mann aus Vietnam. Eines Tages klopfte er an meine Tür und stellte sich vor. Ich verstand seinen Namen nicht recht und vergaß ihn gleich wieder. War ich ein Herr? Ich hatte einen Diener! Also war ich ein Herr.
    Mein Diener brachte mir zu essen, wenn ich zu Hause essen wollte. Er machte mir Komplimente, sagte, ich solle mich drehen, zupfte mir die Ärmel und ruckte mir die Schultern zurecht, sagte, ich sähe superb aus, riet mir aber auch bisweilen zu einem anderen Hemd. Er richtete meine Wäsche, bügelte, nähte Knöpfe an, bürstete aus, überzog alle drei Tage mein Bett frisch, füllte den Kühlschrank auf, putzte meine Schuhe. Er sagte, ich hätte einen erlesenen Geschmack. Er trug stets einen dunklen Anzug und eine Krawatte. Er wohnte mir gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Wir waren die einzigen auf dem Stockwerk. Die Stockwerke über uns waren verschlossen. Seine Wohnung betrat ich nie, er besaß einen Schlüssel zu meiner.
    Wenn ich allein sein wollte, hatte er nichts dagegen und bezog es nicht auf sich. Er begleitete mich, wenn ich Lust hatte, in die Stadt zu gehen, und dabei begleitet werden wollte. Wenn ich mir ein Hemd kaufte oder Socken und einmal eine Mütze, weil der Wind so scharf und kalt von der Mark Brandenburg hereinblies, bezahlte er, und er bezahlte, wenn wir uns am Nachmittag in dieser vorzüglichen Konditorei in der Pappelallee Kaffee und Kuchen und Cognac gönnten.
    In allem war er mir ein wenig voraus – außer im Schach. Er führte mich, ohne dass ich das Gefühl hatte, hinter ihm herzugehen.
    Ich konnte sein Alter nicht schätzen. Ich fragte ihn, und er lächelte. Manchmal sah er aus wie fünfzig, manchmal jünger als ich, manchmal wie ein Knabe und manchmal wie ein sterbender Greis. Sein Haar war gescheitelt und immer etwas feucht, manchmal schimmerte es wie schwarzer Lack, manchmal silbern.
    Am Abend gingen wir einen trinken. Meistens in eine der Kneipen am Prenzlauer Berg. Wir setzten uns nicht, blieben am Tresen stehen und unterhielten uns mit den Männern. Die Witze habe ich alle vergessen. Schade. Manche habe ich nicht verstanden. Vielleicht würde ich sie heute verstehen. Wir tranken Bier. Ich war hinterher betrunken. Mein Diener nie. Wenn mir das Hemd hinten heraushing, machte er mich darauf aufmerksam. Als ich einmal auf dem Nachhauseweg in Hundescheiße trat, bat er mich vor der Haustür, ihm die Schuhe zu geben. Am nächsten Morgen standen sie blitzsauber und geruchsneutral auf der Matte. Die meiste Zeit unterhielten wir uns französisch.
    Nguyen Quoc Hung hieß er, und er war bewaffnet. Er trug eine Pistole Marke Makarow in einem Schulterhalfter unter seinem Jackett. Es war eine sowjetische Ordonnanzwaffe mit zwölf Schuss. Ohne seine Waffe ging er nicht aus, und auch wenn er mich in meiner Wohnung besuchte, hatte er sie bei sich. Er besaß auch einen Schalldämpfer. Er fettete das Gewinde ein und drehte ihn auf den Lauf.
    Wir hatten nichts zu tun. Wir warteten. Wir spielten Schach. Und warteten. Bis Februar war fast kein Tag vergangen, ohne dass ich abgeholt worden war, um an irgendeinem Ort vor irgendjemandem meine Geschichte zu erzählen. Im März waren die Termine seltener geworden. Im April wartete ich. Im Mai wartete ich. Wenn ich von »warten« spreche, meine ich ein Versinken in einem zeitlosen Zustand. Ich habe das schon immer gekonnt: sitzen und nichts denken, nichts betrachten, auf nichts hören, der Atem verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt, die Herzfrequenz verlangsamt sich. Das habe ich immer schon gekonnt. Nun hatte ich in dieser Disziplin einen Meister gefunden: Monsieur Nguyen Quoc Hung. Er zeigte mir ein paar Tricks, die es mir ermöglichten, schneller und tiefer in die Losigkeit (seine Wortschöpfung) einzutauchen – zum Beispiel das sogenannte »blöde Gesicht«: Man lässt die Gesichtsmuskeln erschlaffen, bis der Unterkiefer herabsinkt und Spucke über die Lippe rinnt.
    Hung legte Wert

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