Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Universums als Endprodukt der Entropie, durfte man sich getrost in die Gegenwart zurücklehnen. Man war einfach! Und alles war irgendwie wurscht. Allerdings wollte mir nicht aus dem Kopf, was Hung, wahrscheinlich unbedacht, herausgerutscht war, als wir im Mosquitsch gesessen und auf die Direktiven seiner Brüder gewartet hatten, nämlich: dass es zwei Objekte gebe, die als Elsbeths Übernachtungsstätten in Frage kämen, die Wohnung ihrer Eltern – und? Wie hätte ich Elsbeth danach fragen sollen, ohne unseren »wunderbaren Zufall« zu entzaubern? Sie sprach so gern von diesem »wunderbaren Zufall«, und wie sie dabei ihre Oberlippe hob und, begleitet von einem leeren Blick, noch wenige Sekunden, nachdem die beiden Worte ausgesprochen waren, oben behielt, daraus wollte ich schließen, der Zufall sei für sie etwas Ähnliches wie für mich der Gott, zuständig nicht nur für die Erschaffung der Welt, sondern auch für die Details darin, mit dem traurigen Unterschied eben, dass sich mit dem Zufall kein Disput führen lässt, mit dem Gott aber schon.
Das Wort »wunderbar« irritierte mich. Gegen den »Zufall« hatte ich nichts. In Elsbeths Welt war der Zufall die Normalität. Und nichts anderes als Normalität wollte ich für Elsbeth sein. Nicht Wunder, ja nicht Wunder! Allmählich hässlich werden wollte ich mit ihr an ihrer Seite, Bierbauch und Moos ansetzen und ohne Ambition und Ehrgeiz und ohne eigene Bedeutung in einem Meer von Bedeutung und Bestimmung treiben – und irgendwann ade! Um einen solchen Entschluss zu fassen, braucht man sich nicht länger zu kennen als ein paar Tage.
Schließlich gab ich mir einen Ruck und fragte Hung nach dem ominösen Objekt 2.
»Es ist die Wohnung ihres Freundes«, antwortete er, ohne zu zögern, als teilte er mir nichts Unerwartetes mit – was auch der Fall war.
»Sie hat einen Freund?«, fragte ich dennoch.
»Ja.«
»Liebt sie ihn?«
»Ein bisschen.«
»Warum will sie mich heiraten?«
»Weil er sie nie gefragt hat.«
Seit Elsbeth öfter in meiner Wohnung im Ministerium für Staatssicherheit übernachtete (wofür mir Hung eine vom Minister persönlich unterschriebene Genehmigung besorgte), hatte sich der Kontakt zu meinem Diener, Finanzier und Freund nicht reduziert, aber mehr auf die Vormittage und Nachmittage verschoben, wenn sie bei ihrer Arbeit war. Hung und ich besuchten nicht mehr die Kneipe am Prenzlauer Berg, um dort Bier zu trinken und die Gäste zu verwirren. Ich wusste nicht, wie er nun die Abende verbrachte. Zusammen mit seinen Brüdern?
Erst hatte ich ein schlechtes Gewissen – das ist ja alles andere als vornehm, wenn man seine Geliebte bespitzeln lässt –, dann aber war ich froh, es kam nämlich nichts heraus. Elsbeths ehemaliger Liebhaber war ein Oberwachtmeister bei der Volkspolizei, der immer wieder unter Depressionen litt und tagelang kein Wort von sich gab. Darunter, meldete mir Hung, habe Elsbeth sehr gelitten. Schließlich zu viel gelitten. Sie hatte die Beziehung zu ihm abgebrochen, gerade einen Tag bevor unser »wunderbarer Zufall« geschehen war – womöglich deshalb auch ein so wunderbarer Zufall.
»Wie hat sie es gemacht?«, fragte ich Hung.
»Unkompliziert. Sie hat einfach zu ihm gesagt: Ich will nicht mehr.«
»Und er?«
»Er hat es akzeptiert.«
Elsbeth fand es gemütlich, wenn wir uns ins Bett kuschelten und den Fernseher einschalteten. Dabei war ihr nicht wichtig, was lief, sie hatte es einfach gern, wenn noch andere Stimmen im Raum waren. Und gern duschte sie sich ausgiebig. Bei ihr zu Hause reiche eine Wasserladung gerade für einen halben Menschen. Sie wollte den Wolfsgeruch aus der Haut kriegen. Das leiste die Seife des Ministeriums für Staatssicherheit besser, sagte sie. Ihre Sexualität war unkompliziert. Am schönsten in meiner Wohnung fand sie die Dinge, die mir Hung geschenkt hatte – eine Vase, eine Buchstütze, eine afrikanische Maske.
»Warum eine Vase, wenn keine Blumen darin stehen«, sagte sie. »Warum eine Buchstütze ohne ein Buch, warum eine Maske, wenn nichts darum herumhängt!«
Sie besorgte Blumen und Bilderrahmen, plünderte die geographischen Hefte im Gästeraum, machte es wie meine Großmutter in der kleinen Wohnung im Stadtteil Samoskworetschje in Moskau 1924. Sie brachte auch einige Bücher mit – Der Graf von Monte Christo , Anna Karenina und Der stille Don von Michail Scholochow. Ich sagte, aller berechenbarer Wahrscheinlichkeit nach würden wir nicht mehr lange hier wohnen, es rentiere sich
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