Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Verhören gegenüber den Genossen des NKWD wie die Sau aufgeführt habe, unwürdig, einfach unwürdig, sich auf den Boden geworfen habe und auf allen vieren um den Schreibtisch gekrochen sei, dieser fette Jude, und um sein Leben gebettelt und am Ende Höre Israel, unser Gott ist der einzige Gott angestimmt habe, einfach geschmacklos, lächerlich, zum Lachen eben – weswegen Stalin ja auch fast gestorben sei vor Lachen, als ihm sein Leibgardist, der begnadete Parodist Karl Wiktorowitsch Pauker, die Szene vorgespielt habe.
Die Fenster im Fond des Wagens waren durch die Reklameaufkleber verdunkelt, so dass ich draußen nur Schemen wahrnehmen konnte. Wir fuhren nach Potsdam an die Akademie für Rechts- und Staatswissenschaften – eben dorthin, wo Hung und ich unsere Russischkurse nahmen. Bevor wir ausstiegen, wurden mir Handschellen angelegt und ein schwarzer Jutesack über meinen Kopf gezogen.
Im Untergeschoss des Gebäudes erwartete uns eine Frau. Sie sagte, es sei übertrieben, mir einen Sack über den Kopf zu ziehen, Handschellen und eine dezente Augenbinde wären Pflichterfüllung genug gewesen, ihrer Meinung nach hätte man überhaupt auf all diesen Zierat verzichten können. Sie befreite mich und schickte die Männer hinaus.
Ich war mit ihr allein. Mit ihr und dem obligaten Tonbandgerät. Diesmal nur zu »protokollarischen Zwecken«.
Auch sie nannte mir ihren Namen nicht. Sie hatte schwarzes Haar, streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gespannt. Markant waren ihre Augen, schwarz unter dicken Balken schwarzer Brauen. Sie trug ein schwarzes Kostüm, darunter ein Männerhemd mit einer schmalen schwarzen Krawatte. Sie wies mir den Sessel auf der anderen Seite ihres Schreibtischs zu. Auf ihrer Oberlippe schimmerte ein blauschwarzer Flaum.
»Sie sind also der Enkel.«
Ich antwortete nicht.
»Der angebliche Enkel.«
Ich antwortete nicht.
»Ernst-Thälmann Koch also.«
Ich sagte nichts.
»Doktor der Theologie.«
Ich antwortete wieder nicht.
»Die Tatsache, dass Thälmanns Enkel ein Theologe ist, hat uns sehr verwundert – wenn es denn eine Tatsache ist. Aber zugegeben: In der Theologie liegt viel Interessantes.«
Auch dazu sagte ich nichts. Ich war gekränkt wegen der Behandlung, die dem Nachfahren des größten Helden der DDR widerfahren war; das heißt, ich schätzte meine Lage so ein, dass es für mich günstig wäre, gekränkt zu wirken.
»Ich verstehe Sie«, sagte sie prompt. »Wäre ich Thälmanns Enkelin, würde ich mich wie Sie über meine Fragen empören.«
Sie wartete eine Weile, nickte mir aufmunternd zu, und als von meiner Seite nichts kam, redete sie mit ihrer angenehm tiefen, vertrauenerweckenden Stimme weiter.
Die meisten, die auf meinem Sessel säßen, würden nicht mehr aufhören wollen zu reden. Das habe sie nie verstanden. Ob ich das verstünde?
Ich sah sie an. Sagte nichts.
Sie sei dankbar, dass ich schwiege. Das meine sie ohne Ironie. Das zeichne mich aus. Das Individuum in Panik verwechsle sich gern mit dem Gemeinwesen und dessen Bedeutung. Es gebe nichts Peinlicheres, als jemandem zuzuhören, der glaube, er müsse um sein Leben reden. Jeder Verdächtige eine Scheherazade! Wo käme man hin! Als ob der Staat für jeden tausendundeine Nacht zur Verfügung hätte! Soll sich einmal einer ausrechnen, welche Masse an Zeit bei sechzehneinhalb Millionen Einwohnern zusammenkomme! Aber um von meinem Fall zu sprechen, deswegen sei ich schließlich hierhergebracht worden: Sie habe also meine Geschichte gehört, sechzehn Mal sogar. Fazit: Sie glaube mir nicht. Was die anderen – sie suchte auf ihrem Schreibtisch nach einem Papier, fand es, setzte ihre Brille auf und las herunter – (ich zitiere wörtlich aus der Abschrift des Tonbandprotokolls) »namentlich die Genossin Oberleutnant Erika Stabenow von der Grenzbrigade 13, die Genossin Hannelore Fischer, Stellvertreterin des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung von Erfurt, die Genossen Frank Eisenhuth und Helmut Müller vom Wachregiment Feliks Dzierzynski , die Genossin Erika Geyer-Herrnstadt, Gattin von Generalmajor Walfried Geyer, Chef der Militärakademie Friedrich Engels , die Genossin Gudrun Ernst, Büroleiterin des Politbüros des ZKs der SED, der Genosse Horst Heinrich Laube, Leiter der Hauptabteilung VI des MfS, und dessen Gattin Vera Laube, Leiterin des Restaurants Zille Stube im Interhotel Stadt Berlin, die Genossen Gert Jobst, Werner Jarowsky und Henning Babel von den Ministerien für Justiz,
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