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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Tschekisten ein Löwe. Aus diesem Grund habe Feliks Edmundowitsch Dzierzynski, der Vater des mächtigsten Geheimdienstes, den die Welt je gesehen habe, schon 1919 , bald nach der Revolution, eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Psychologen und Theologen – jawohl, auch Theologen! – zusammengerufen und diesen Fachleuten den Auftrag erteilt, etwas zu finden, was dem Tschekisten das schlechte Gewissen beim Töten nehme. Heraus kam die ebenso simple wie geniale Idee, den Kandidaten in ihrer Ausbildung die Fähigkeit anzutrainieren, in jedem beliebigen lebendigen Menschen jederzeit einen Toten zu sehen, wenn die anstehende Aufgabe es erfordere. Auf Tote zu schießen, das lasse der Löwe gelten.
    »Das, mein Jungchen«, sagte er, »ist das Äußerste an Moral, wozu der Mensch fähig ist: sich eine Welt vorzustellen, in der er der einzige ist, der lebt.« Woraus sich logisch ergebe: Der Tschekist sei immer in der Minderheit, deshalb greife er nach dem erstbesten Stück, brülle wie ein Löwe und schlage mit der Kraft des Bären zu. Entschlossenheit, Brutalität und Überraschung ließ einen Tschekisten in jeder Situation den Stärkeren sein.
    »In jeder Situation!«
    Er legte wieder sein Ohr an meine Brust und lauschte auf meinen Herzschlag. »Natürlich«, sagte er und blieb eine Weile in der Umarmung, »gibt es Kollateralschäden. Sind wir Roboter oder was! Nein, sind wir nicht. Oder hast du etwa Billardkugeln in deinem Sack? Nee? Wusste ich’s doch, das ist Fleisch und Blut. Und wär ich eine schwule Tunte, nichts lieber würde ich tun, als einem Hübschen wie dir die Nüsse zu kraulen. Kann ich aber nicht dienen in dieser Hinsicht. War einmal ein Genosse, ein treuer Tschekist von der Glatze bis zu den Käsfüßen, der kommt früher als geplant von einer Geschäftsreise nach Hause und sieht durchs Küchenfenster den Liebhaber seiner Frau im Garten, worauf er den Genossen Mauser aus der Arschfalte zieht und die Sau abknallt. Der Frau blieb nichts anderes übrig, als vor der Polizei seine Version zu bestätigen, nämlich dass da ein Einbrecher gewesen sei. Lange hat die Ehe nicht mehr gehalten. Und ich musste als sein Chef diesen Unglücksraben rügen. Hab ich auch getan. Mit Augenzwinkern, versteht sich. Oder hätte ich ihn mit einem Aufgesetzten über den Jordan schicken sollen? Bin ich ein Unmensch? Bin ich nicht.«
    Hob die Hand zum Gruß und ging über die im Regen schimmernde Gasse davon, ohne sich umzudrehen.
     
    Hung war immer in unserer Nähe gewesen. Den Abend über und bis in die Nacht hinein. Das war mir angenehm. Ich sah ihn auf der anderen Straßenseite stehen, ich wurde von ihm gesehen, gehört und gegrüßt. Er lächelte nicht. Ich wusste, ich war auf diesem Planeten nicht allein, ich wurde begleitet von einem nichtfremden Fremden. Dieses Land – war es nicht wie Momas Salon in der Báthory utca, als ich an jenem Tag aus meinem Mittagsschlaf erwacht und allein gewesen war? Ich, der einzige Bewohner, hatte Straßen aus Blumentopferde gebaut, hatte entlang der Fahrbahn Zuschauer aufgestellt, die mein Werk aus Kissenknopfaugen betrachteten, ich war mit einer roten Limousine aus Blech und einem roten Feuerwehrauto über meine Straßen gefahren. Ich hatte die Straßen vernichtet und zu Städten zusammengeknetet, weil ich es beschlossen hatte. Ich hatte für die Ernährung gesorgt, indem ich das Weiche aus dem Brotleib pulte, hatte für die Bewässerung gesorgt, indem ich den Wasserhahn aufdrehte. Ich hatte meine Zudecke mit den aufgestickten Tieren um mich gelegt wie einen Königsmantel und hatte mich im Spiegel erkannt. Ich war der König gewesen, der Staatsratsvorsitzende, der Generalsekretär, der Minister für Staatssicherheit. Es gab keine Menschen. Entweder es gab sie nicht, oder sie waren tot.
     

3
     
    Dortchen und Lenchen kannten einander. Sie spielten miteinander und wussten nicht, dass sie denselben Papa hatten. Und ihre Mütter wussten nicht, dass sie einander kannten. Elsbeth hätte wahrscheinlich nichts dagegen gehabt, Clara schon. Ihre beiden Mädchen sahen aus wie Geschwister. Dortchen war fester und puppenhafter, Lenchen dünn wie eine Flunder. Ich zeigte Ruth Fotos von den beiden, darauf haben sie ähnliche Kleidchen an mit hoher Taille, und sie strecken ihr Bäuchlein heraus – was Dortchen leichter fiel, worum sich Lenchen aber umso mehr bemühte –, und beide halten etwas in den Händen, das sie beschäftigt, Lenchen einen Füllhalter, Dortchen eine Seifenschale mit Deckel, sie

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