Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
dir das gesagt sein, du Scheißtheologe! Ich sehe aus wie Françoise Hardy, und ich kann singen wie Françoise Hardy, und in diesem Land ist es jedem egal, ob ich aussehe wie Françoise Hardy, und jedem ist es egal, ob ich singen kann wie Françoise Hardy. Warum nimmst du nicht mich? Warum hast du nicht von Anfang an mich genommen?«
Ruth weinte. Sogar wenn ihre Scheißtränen flossen, war sie schöner als Clara und Elsbeth.
Ich ging ihr von nun an aus dem Weg. Bei unserem letzten Besuch in der Wohnung ihrer Freundin vergaß ich ein T-Shirt, das königsblaue. Das blieb dort liegen.
5
Und schon hatten wir 1986! – Das hieß: Ich begann mein achtes Jahr in der Deutschen Demokratischen Republik. Acht Jahre! So lange war ich im Gefängnis gesessen! Und mein Empfinden: als wäre nichts geschehen und ich immer noch vier, wie Lenchen und Dortchen; oder neun, wie der weizenblonde Bub, der manchmal Dortchen und mich, manchmal Lenchen und mich auf dem Spielplatz beobachtete und in dessen Augen ich lesen konnte, dass er mich durchschaute, dass er genau wusste, er hatte einen betrügerischen doppelten Vater vor sich.
Ja! Schon war 1986 , mein letztes Jahr im Sozialismus; das Jahr, das wie kein anderes des Erzählens wert ist (und an dessen Ende auch das Erzählen zu Ende sein wird) – nicht nur, aber hauptsächlich, weil ich von zwei Reisen ins Ausland berichten kann.
Vor den Semesterferien im März fragte mich mein Schwiegervater Hagen Bertuleit, ob ich ihn auf »einer Tour nach jenseits des Rheins« begleiten wolle. Er schürzte die Lippen zu einem Lächeln, entspannte sie, schürzte wieder – Andeutungen, denen ich nicht traute, was immer sie auch heißen mochten. Er war ein angenehm unkompliziert aussehender Mann, womit ich meine, man glaubte ihn immer gut aufgehoben, in den Verhältnissen, wie sie waren, und in seiner eigenen Haut. Er aß kräftig und blieb schlank, er trieb keinen Sport und war dennoch muskulös, er bekleidete neben seiner Arbeit im Ministerium Funktionen in der Partei und verschiedenen Verbänden und Vereinen und sah stets erholt und ausgeschlafen aus; in seiner Stimme schien ein Instrument zur Erzeugung eines ironischen Tonfalls eingebaut zu sein, der bei jedem Thema mitschwang, ohne dass sich die ironische Absicht im einzelnen ohne weiteres hätte nachweisen lassen. Ich konnte mir vorstellen, wie er und seine Frau Sex hatten.
Wir würden, schwärmte er, nach Paris fliegen, dort ein Auto mieten, weiter in die Bretagne fahren, hinein in den Frühling bei offenem Verdeck, würden unter blühenden Apfelbäumen Weißbrot in Olivenöl tunken und dazu einen Côtes du Rhône trinken oder einen ordinären Cidre.
»Wovon redest du eigentlich?«, rief seine Frau.
Beim Werbegespräch um seine Tochter hatte er Frankreich als eines jener Länder genannt, in denen er ein und aus gehe; nun stellte sich heraus, dass er nie dort gewesen war. Er sagte »Fronkreisch, Fronkreisch« und bewegte den Kopf im Rhythmus der Marseillaise, die ich erkannte, ohne dass er die Melodie andeutete. Ich hatte über Hagen bisher nur einmal nachgedacht und war augenblicklich zu mir zurückgekehrt: So einer wird aus mir werden, wenn ich dem Pferd nicht in die Mähne greife und es herumreiße. Und hatte zugleich gedacht: Was wäre schlimm daran? Hat er nicht jeden Tag drei Mahlzeiten vor sich stehen, mittags und abends sogar warm? Lebt er nicht in einem Haushalt mit genügend warmem Wasser, um jeden Tag baden zu können? Er fädelte Geschäfte ein, über die er mit jedermann sprach, also waren es keine krummen Geschäfte, obwohl es mit Sicherheit krumme Geschäfte waren. Er hatte keine Launen, und man sah ihm an und hörte ihm an, man konnte es an seinen Kleidern riechen, dass er einer sein wollte, der keine Launen hatte.
Er habe, weihte er mich ein, von der Außenhandelsstelle den Auftrag erhalten, Kontakte zu landwirtschaftlichen Betrieben zu knüpfen, und zwar zu Kleinbetrieben, im Westen so genannten Nischenbetrieben, die sehr im Kommen seien, begünstigt durch das ökologische Denken drüben. Zum Beispiel, das hätten ihm seine Verbindungsleute in euphorischen Telefonaten versichert, erlebe der gute alte Rübenzuckersirup eine Renaissance; bretonische Bauern hätten bereits ihre Felder von Weizen auf Rüben umgestellt, so groß sei die Nachfrage. Die Idee nun sei, in unserer Republik ebenfalls Rüben anzubauen und in Zukunft den Franzosen auf dem Markt Konkurrenz zu bieten, womöglich auch den Kanadiern mit ihrem
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