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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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schürzen ihre Lippen, und in diesem Moment der Konzentration sehen sie einander tatsächlich ähnlich wie Zwillinge. (Während ich das schreibe, liegen die Bilder vor mir.) Ruth war gerührt, und sie sagte, sie finde es ganz, ganz furchtbar, dass die Verhältnisse so seien, dass sich diese beiden Engelchen nicht kennen lernen dürften. Und am folgenden Tag, als wir uns wieder in der Wohnung ihrer Freundin trafen (die wir inzwischen öfter frequentierten als die Freundin selbst, sie hatte einen neuen Freund – so viel Westkaffee aus dem Intershop konnte sie gar nicht trinken, wie ich in ihrer Küche deponierte, ich nehme an, sie betrieb einen kleinen Handel damit), unterbreitete sie mir einen Vorschlag, wie er selbstloser nicht sein konnte: Sie, meine Geliebte, meine Nelke (ja, auch sie), die sich nichts mehr als eben ein solches Kind von mir wünschte, werde sich bei meinen beiden Frauen als Kindermädchen bewerben, ich müsse ihr dabei nur ein bisschen behilflich sein, und dann werde sie Dortchen und Lenchen auf den Spielplatz begleiten und ihnen eine Stunde oder zwei beim Spielen zusehen und auf sie aufpassen, mehr nicht, das schwöre sie, oder sie werde die beiden zu einem Eis einladen und sich mit ihnen auf ein Mäuerchen setzen.
    Ich fragte Clara, ob sie einverstanden sei, wenn wir uns für zwei oder drei Tage in der Woche für zwei oder drei Stunden am Nachmittag ein Kindermädchen leisteten. Sie war sofort damit einverstanden. Sie hatte zwar nichts zu tun, fühlte sich aber überlastet, und mit Dortchen konnte sie nicht viel anfangen, die Kleine war eine dauernde Quelle der Enttäuschung für sie, schien mir – erwartet worden war ein Thälmann, eine Thälmännin ist es geworden, damit hatte es schon einmal angefangen. Außerdem gebot Clara zu dieser Zeit sogar über zwei Liebhaber, sie würde flexibler disponieren können.
    Elsbeths neue Arbeit in Honeckers Büro war interessant, wie sie mir versicherte, aber im Staatsratsgebäude befand sich kein betriebseigener Kindergarten, weswegen jeden Tag eine aufwendige Organisation nötig war, damit immer jemand ein Auge auf unsere Tochter hatte – so am Schnürchen, wie man sich das im Westen vorstellte, lief die Ganztagskinderbetreuung in der DDR nun doch nicht. Auch Elsbeth war froh über ein Kindermädchen.
    Also holte die schöne Ruth an zwei bis drei Nachmittagen in der Woche Dortchen von der Marienburgerstraße und Lenchen von ein paar Blocks weiter ab. Immer brachte sie ihnen eine Winzigkeit mit, einen Fingerring oder einen Fingerhut, eine Haarspange oder einen Luftballon, wenn es Luftballons gab, saure Drops oder ein Glöckchen für das Handgelenk. Wobei sie Wert darauf legte, nicht gerecht zu sein. »Einmal bekommt Lenchen mehr, einmal Dortchen etwas Schöneres. Wenn sich die eine bevorzugt fühlt, darf sich die andere dafür umso mehr auf das nächste Mal freuen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Gerechtigkeit ist für Geschenke nicht geeignet.«
    Manchmal schlich ich ihnen nach und beobachtete aus der Ferne, wie meine Töchter zwischen den Rutschen und Schaukeln herumtollten, wie sie einander Bälle zuwarfen, wie sie sich schubsten und knufften und wie sie sich, scheinbar ohne jeden Grund, plötzlich umarmten und Küsse tauschten. Ich sah, wie Ruth eine Zigarette rauchte, und hätte gewettet, dass keine Frau in unserer Republik mit solcher Nonchalance ziehen und inhalieren konnte wie meine Geliebte. Ich war glücklich, dass meinen Töchtern auf diese Weise Eleganz vorgelebt wurde. Sie durften mich nicht sehen, sonst wäre alles aufgeflogen, sie wären mit ausgebreiteten Ärmchen auf mich zu gerannt, hätten »Vati!« und »Babbale!« gerufen und hätten gewiss sofort verstanden, dass beides das Gleiche und den Gleichen meinte.
     
    Lenchen war die Wissbegierige, Dortchen das Schmusekätzchen.
    Zu fragen und Antwort zu kriegen war für Lenchen wie Küssen und Küsschen kriegen. Der Samstag war unser »voller Tag«, das hieß, wir beide waren von morgens bis abends zusammen. Elsbeth besuchte ihre Eltern oder ihre Brüder oder fuhr mit Freundinnen und Freunden auf dem Fahrrad um den See. Lenchen und ich frühstückten – ich musste ihr erklären, warum Brot Brot heißt und warum Brot nicht etwas Ähnliches ist wie Holz, wo es doch ähnlich wie Holz aussieht. Sie strich Butter auf die Stuhllehne, dorthin, wo der Lack abgesprungen war, und tupfte mit ihrem Fingerchen rote Marmelade darauf, aber hineinbeißen wollte sie nicht, dass sollte ich

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